Der de-facto-Herrscher in Saudi-Arabien stellt sich gerne als Reformer, Modernisierer seines Königreichs in den Vordergrund. Er hat Saudi-Arabien zu einer Top-Destination für Konferenzen der Superlative gemacht, mit seinem Projekt Neom will er der Welt zeigen, wie viel Innovationskraft im Sand der arabischen Halbinsel steckt. Alle paar Monate lädt der Kronprinz zu einem neuen Treffen ein – und die sogenannten „Movers und Shakers“, wie die wichtigen Leute aus Politik und Wirtschaft im Konferenzensprech genannt werden, kommen aus aller Welt nach Riad geflogen. Beim Weltwirtschaftsforum (WEF), einem Ableger des Gipfeltreffens in Davos, das zum ersten Mal in Riad zu Gast war, ist das nicht anders.
Bin Salman hat allerdings ein Problem: Seine Visionen, seine Goldgräberstimmung, die er früher erfolgreich in die Welt transportieren konnte, fruchtet nicht mehr. Zwar wird wie immer über Dinge wie künstliche Intelligenz oder die Zukunft der Energie diskutiert. Und natürlich auch über Neom, die futuristische Riesenmetropole, die bin Salman in der Wüste bauen will. Denn das alles beherrschende Thema in den vor lauter Gold glänzenden Konferenzräumen und Executive Lounges ist nicht die Traumstadt Neom – sondern der Albtraum von Gaza. Der Krieg im Küstenstreifen, der mit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober begann und seither Zehntausende Tote und Verletzte gefordert hat, droht nicht nur den Nahen Osten in den Abgrund zu reissen.
Er stellt nämlich Saudi-Arabien vor grosse Probleme. In jenem neuen Nahen Osten, von dem bin Salman so gern schwärmt, sollten Krisen und Kriege eigentlich der Vergangenheit angehören. Der saudische Kronprinz setzt seit Jahren auf regionale Zusammenarbeit und Stabilität, um aus seinem Öl-Königreich eine moderne, global vernetzte Dienstleistungswirtschaft zu machen. Doch statt als Visionär muss er sich jetzt als Krisenmanager betätigen.
In der Öffentlichkeit ist das Leid der Palästinenser in Gaza kaum ein Thema, doch arabische Teilnehmer am WEF sagen immer deutlicher, dass die Emotionen angesichts der Bilder aus dem zerstörten Küstenstreifen hochgingen. Bin Salman muss zwar im Gegensatz zu anderen arabischen Staatsführern den Volkszorn nicht fürchten. Trotzdem bringt ihn der Gaza-Krieg in eine missliche Lage, denn sein Land, welches über die heiligen Stätten des Islam wacht, kann nicht am Seitenrand stehen, während im Nahen Osten die wohl schlimmste Krise seit Jahrzehnten herrscht. Gleichzeitig will der Kronprinz trotz all den Toten in Gaza nicht von der Annäherung an Israel lassen, auf die er vor dem 7. Oktober hingearbeitet hat. Diese unterschiedlichen Interessen muss er jetzt unter einen Hut bringen.
Daher führte MBS Hintergrundgespräche und ließ eine Gaza-Konferenz ausrichten. Außenminister Faisal bin Farhan verurteilte Israel dabei scharf – nur um kurz darauf zu versichern, dass sein Land immer noch an einer Normalisierung interessiert sei. Zur Bedingung machte er aber ein Ende des Gaza-Kriegs und einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967. Viele Mittel, um auf die Konfliktparteien einzuwirken, hat Saudi-Arabien allerdings nicht. Denn im Gegensatz zu seinen kleinen Nachbarn Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten verfügt es weder über Beziehungen zu Israel noch zur Hamas.
Ähnlich zurückhaltend geben sich die Saudi, wenn es um eine mögliche Nachkriegsordnung in Gaza geht. Dabei müsste das reiche Königreich, das sich als Führungsmacht der Araber sieht, eigentlich eine Hauptrolle spielen. Aber bin Farhan blockte ab, noch sei es zu früh, um darüber zu sprechen. Sein Amtskollege Ayman Safadi aus Jordanien erklärte, warum: „Wir wissen ja nicht, was Israel in Gaza vorhat“, sagt er. Man wolle auf keinen Fall als Komplize der Besatzungsmacht gesehen werden. Auch saudische einflussreiche Manager wissen nicht, wie sie umgehen sollen mit der Situation: „Sie fragen mich, welche Rolle wir spielen können?“, fragt ein bekannter Kommentator und Chef der Zeitung „Arab News“. „Nennen Sie mir doch bitte irgendein anderes Land im Nahen Osten, dem es gelingt, fast alle arabischen Staaten auf eine gemeinsame Position einzuschwören!“
Zurückhaltung passt nicht zu dem grenzenlosen Selbstbewusstsein, mit dem die Saudis in letzter Zeit aufgetreten sind. Gerne erklären sie europäischen Besuchern, dass sich die Zeiten geändert hätten und die Golfstaaten jetzt eine völlig unabhängige Außenpolitik betreiben würden. Doch nach Jahren, in denen Riad dank dem Ukraine-Krieg und dem hohen Ölpreis mit breiter Brust Weltpolitik machen konnte, hat der Gaza-Krieg nun einige Illusionen platzen lassen. So muss der auf seine strategische Autonomie so stolze bin Salman erkennen, dass er allem Gerede von einer multipolaren Weltordnung zum Trotz immer noch auf Amerika angewiesen ist. Nicht nur kann ausser Washington niemand auf Israel einwirken und so den Traum vom neuen Nahen Osten doch noch Realität werden lassen. Sondern Amerikas Militär bleibt für die Sicherheit am Golf auch wichtiger, als sich dies viele in Riad eingestehen wollen.
Nur dank der Hilfe der Amerikaner und anderer Verbündeter ist es den Israeli vor ein paar Wochen gelungen, einen gewaltigen Drohnen- und Raketenangriff aus Iran nahezu ohne Schaden abzuwehren. Bei Saudi-Arabien und anderen arabischen Golfstaaten, die sich vor Teheran mehr fürchten als vor Israel, hat die erfolgreiche Luftschlacht einen starken Eindruck hinterlassen.
Aus diesem Grund sendet die Elite aus Riad Signale gen Westen, dass sie einer strategischen Allianz mit Israel und den USA nicht abgeneigt wären. Der Kronprinz weiss allerdings, dass damit zurzeit keine PR zu machen ist. Er, der sich sonst gern im Scheinwerferlicht sonnt, schweigt aktuell lieber.
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