Ein Jahr ist es nun her, dass das verheerende Erdbeben große Teile der Süd-Türkei in Schutt und Asche gelegt hat. Trotz der nachweislich katastrophalen Entscheidungen, die die türkische Regierung in Ankara, aber auch die Stellvertreter Erdogans auf regionaler Ebene seit Jahren gemacht hatten, konnte die Präsidentenwahl kurz nach der Katastrophe wieder nur einen Sieger sehen: der Sultan konnte sich behaupten.
Nun, nach 12 Monaten, steht die Bevölkerung der Provinz Hatay immer noch allein da, nichts hat sich verändert. Tausende leben immer noch in Zeltstädten, der Wiederaufbau hat vielerorts noch überhaupt nicht begonnen. Die Perspektivlosigkeit ist überall mit Händen zu greifen. Laut Dekret der Regierung sollten sich die Menschen am Jahrestag des Erdbebens schweigend zusammenfinden, um den Getöteten zu gedenken. Tausende versammelten sich in Antakya, der am schwersten betroffenen Stadt im türkischen Erdbebengebiet. So standen sie am Jahrestag in der Dunkelheit zwischen den Trümmern ihrer Stadt, schweigen wollten sie nicht.
Als der türkische Gesundheitsminister auf die Bühne trat, aus Ankara als Vertreter der Regierung angereist, buhten sie ihn aus, der Minister kam kaum zu Wort. Die Menschenmenge brüllte ihn nieder mit Sätzen wie „Wir hatten kein Leichentuch, wir hatten keinen Leichenwagen.“ „Der Mörderstaat wird die Rechnung bekommen.“ Und immer wieder riefen sie die Frage „Hört jemand unsere Stimmen?“ Von denen, die ihre Wut in die Nacht schrien, leben viele noch immer in Notunterkünften. Über eine halbe Million Menschen leben in der Erdbebenregion nach wie vor in Containern oder gar in Zelten. Mancherorts hat der Wiederaufbau begonnen, in Antakya dürfte es damit aber am längsten dauern. Nicht nur, weil hier viele die Opposition wählen. Die Stadt sieht wie ausradiert aus. Sie wird von dem Erdbeben wohl auf Jahre gezeichnet bleiben.
Der Gesundheitsminister war wohl entsandt worden, weil Präsident Recep Tayyip Erdogan wohl ahnte, was ihm blühen würde im Südosten seines Reiches. Dem wollte er sich nicht aussetzen und schickte seinen Gesundheitsminister, der die Menschen beruhigen sollte. Die Provinz Hatay, in der Antakya liegt, wird als einzige in der Erdbebenregion von der Opposition regiert. Trotzdem wurde auch deren Gouverneur ausgepfiffen für sein Krisenmanagement, für die fehlende Hilfe.
Viele in der Provinz glauben, dass daran die Politik schuld war. Der Fakt, dass Hatay kein treues Erdogan-Land ist. Dies unterstrich Erdogan auch indirekt, als Tage später in Antakya auftrat, um die Kandidatinnen und Kandidaten seiner AKP für die Kommunalwahlen am 31. März zu nominieren. Dabei sagte er einen Satz, der seine Gegner empörte: „Wenn die nationale Regierung und die örtliche nicht Hand in Hand gehen, wird in jener Stadt nichts ankommen.“ Und er fügte hinzu: „Ist nach Hatay etwas gekommen?“
Geld fließt nicht zu denen, die es am dringendsten brauchten, heisst es in einem Kommentar der Zeitung Karar. Der Präsident sage ganz offen: Wählt bei den Kommunalwahlen unsere Kandidaten, sonst bekommt ihr nichts. „Erdogan ist der Staat“, so die Zeitung, „der Staat ist die AKP.“ Dieser Staat musste sich im nächtlichen Antakya einen Schlachtruf anhören, den Machthaber nirgendwo auf der Welt gern hören. Einer, zu dem in der Türkei auch Mut gehört. „Regierung, tritt zurück!“, hieß es aus der Menge.
Auch bei der juristischen Aufarbeitung ist bislang noch nicht viel passiert. Bei dem Erdbeben der Stärke 7,8 stürzten rund 227.000 Gebäude ein oder wurden beschädigt. Mehr als 1,5 Millionen Menschen wurden obdachlos. Untersuchungen zeigten rasch, dass in vielen Fällen die Bauvorschriften missachtet worden waren. Eigentlich gelten seit dem Erdbeben von Kocaeli im Jahr 1999, bei dem 17.500 Menschen zu Tode gekommen waren, strikte Bauvorschriften in der Türkei. Oft werden sie aber nicht eingehalten oder überprüft.
Zum Jahrestag des Erdbebens teilte der türkische Justizminister mit, es seien Ermittlungen gegen 2825 Verdächtige eingeleitet worden und 267 Personen befänden sich in Haft. Infolge der Ermittlungen seien 369 Strafverfahren eingeleitet worden, von denen 275 zu einer Anklage geführt hätten. Die Erfahrung mit früheren Erdbeben gibt aber Grund zu Skepsis, ob die Verantwortlichen tatsächlich bestraft werden.
Zum ersten Jahrestag des Erdbebens hat nun die türkische Staatsanwaltschaft ihre Anklage zum Fall der Rönesans-Residenz vorgelegt. Der Apartmentblock in Antakya war am 6. Februar 2023 komplett auf die Seite gestürzt. Beim Einsturz des zwölfstöckigen Gebäudes verloren nach offiziellen Angaben 269 Bewohner ihr Leben. Seit Anfang Februar nun müssen sich der Bauunternehmer und sieben weitere Beschuldigte für die Katastrophe verantworten.
Der Unternehmer hatte nach dem Beben versucht, sich ins Ausland abzusetzen. Vor Gericht behauptete er, es zeuge von der soliden Bauart, dass das Gebäude umgefallen und nicht eingestürzt sei. Ein Gutachten kam aber zu dem Schluss, dass bei dem Bau zahlreiche Vorschriften missachtet worden waren. Insbesondere war das Fundament des als Luxusresidenz angepriesenen Apartmenthauses nicht tief genug. Den Angeklagten drohen wegen fahrlässiger Tötung bis zu 22 Jahre Haft.
Neben dem Bauunternehmer und seinem flüchtigen Bruder sind der zuständige Bauleiter, ein Bauingenieur und mehrere Mitarbeiter von Firmen angeklagt, die zu Beginn der Bauarbeiten im Jahr 2011 die Statik geprüft hatten. Nicht angeklagt sind hingegen die Mitarbeiter der Stadtverwaltung, welche die Baugenehmigung erteilt und die Bauarbeiten beaufsichtigt haben. Ein Einzelfall ist dies nicht.
Im Fall der Nobel-Residenz in Antakya wurden zwar Ermittlungen gegen die zuständigen Beamten im Baudezernat eingeleitet. Auch hält die Anklage fest, dass sie eine Mitverantwortung für die Katastrophe trügen. Bis jetzt wurde aber kein Verfahren gegen sie eröffnet. Dies ist kein Einzelfall: In den meisten Verfahren werden die Ermittlungen gegen die verantwortlichen Behördenmitarbeiter ausgegliedert – so sie denn überhaupt stattfinden.
In der Türkei muss das Innenministerium grünes Licht geben, bevor die Staatsanwaltschaft wegen Vergehen ermitteln darf, die Beamte in Ausübung ihres Amtes verübt haben. Die Kritiker der Regierung sehen darin einen Grund, warum seit der Katastrophe vor einem Jahr keine Vertreter der Stadtverwaltung vor Gericht gebracht worden seien. Dies gilt auch für den Prozess zum „Grand Isias Hotel“ in Adiyaman – das wohl symbolträchtigste Verfahren zum Erdbeben in der Türkei.
Das Vier-Sterne-Hotel war bei dem Erdbeben wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. 72 Menschen starben in den Trümmern. Unter ihnen waren 24 Kinder eines Volleyballteams sowie mehrere ihrer Trainer, Lehrer und Eltern. Der Prozess gegen Verantwortliche begann hier am 3. Januar. Insgesamt müssen sich elf Beschuldigte wegen der Katastrophe verantworten.
Hauptangeklagter ist der Eigentümer des Hotels. Vor Gericht versicherte der Unternehmer, er habe beim Bau des Hotels alle Vorschriften befolgt, doch dem Erdbeben des Jahrhunderts habe das Gebäude nicht standhalten können – so wie Tausende andere Gebäude auch. Allerdings besteht der Verdacht, dass die Stadtverwaltung bei dem Bau des Hotels ein Auge zugedrückt habe, weil der Eigentümer gute Kontakte zur Regierungspartei AKP unterhielt.
Laut einem Gutachten wurde beim Bau poröser Beton verwendet und ein zusätzliches, illegales Geschoss hinzugefügt, während tragende Pfeiler entfernt wurden, um mehr Platz in der Lobby zu schaffen. „Sie haben kein Hotel, sondern ein Massengrab gebaut“, sagte die Mutter eines der Mädchen, die in den Trümmern starben, bei dem Prozess.
Nicht ein einziger Beamter, Stadtrat oder Bürgermeister haben sich bisher dafür verantworten müssen, dass Bauprojekte bewilligt habe, die gegen die Vorschriften verstiessen, die mitverantwortlich waren für über 53.000 Tote. Die Regierung Erdogan muss eigentlich sicherstellen, dass alle zur Verantwortung gezogen werden, welche die Wohnhäuser, Spitäler und Hotels genehmigt hätten, die am 6. Februar zu Gräbern für ihre Bewohner geworden sind.
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