Als die türkische Opposition vor fünf Jahren Präsident Recep Tayyip Erdogan die vielleicht schwerste Niederlage seiner politischen Karriere zufügte, lag der Schlüssel des Erfolgs in ihrer Einheit: Die säkularen Kräfte und die grösste kurdische Partei spannten bei den Lokalwahlen 2019 zusammen. Das Ergebnis der Premiere konnte sich sehen lassen. In fast allen Grossstädten gewannen Erdogans Gegner. Besonders bedeutsam war der Triumph in Istanbul. Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert gelang es in der Metropole am Bosporus, Erdogans Partei für Entwicklung und Wohlstand (AKP) von der Macht zu verdrängen.
Hier hatte Erdogans Karriere begonnen, und man fragte sich, ob nun auch ihr Ende hier eingeläutet würde. Hatte der Präsident nicht selber gesagt, wer Istanbul regiere, regiere die Türkei? Die 16-Millionen-Metropole ist ein Abbild der Türkei mit all ihren Gräben und Widersprüchen. Wem es gelingt, hier eine Mehrheit hinter sich zu scharen, so damals die These, schafft es auch auf nationaler Ebene. Es kam bekanntlich anders. Obwohl sich erneut ein breites Bündnis von Regierungsgegnern bildete, unterlag deren Kandidat, Kemal Kilicdaroglu, bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Mai. Der Amtsinhaber Erdogan siegte deutlich und sitzt so fest im Sattel wie eh und je.
Heute fanden erneut Lokalwahlen statt und wieder fällt die wichtigste Entscheidung in Istanbul. Erdogan hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er die Scharte von 2019 auswetzen und seine Heimatstadt zurückerobern will.
Noch folgenreicher war die Abkehr der Kurden. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die nach zwei Umbenennungen wegen eines Verbotsverfahrens nun DEM-Partei heisst, hatte bei den letzten Urnengängen darauf verzichtet, Kandidaten ausserhalb ihrer Stammlande im Südosten der Türkei aufzustellen. Stattdessen rief die drittstärkste Kraft des Landes ihre Unterstützer auf, den jeweiligen Vertreter des Oppositionsbündnisses zu wählen.
Nun trat die prokurdische Partei jedoch wieder mit eigenen Kandidaten an, auch in Istanbul. Die Rolle als Königsmacherin lohne sich nur, wenn sie mit politischem Einfluss belohnt werde, erklärte Tülay Hatimogullari Oruc, die Co-Vorsitzende. Dabei schwang grosse Empörung über das Verhalten der CHP bei der Präsidentschaftswahl mit. Erdogan hat erkannt, dass ihm das von Vorteil sein kann. Mit pauschalen Verunglimpfungen, wie in früheren Wahlkämpfen, hält er sich auffallend zurück. Zu einem Hoffnungsträger der Kurden macht das den Präsidenten freilich nicht. Dafür wiegt die Vergangenheit zu schwer.
Erste Ergebnisse zeichnen einen Trend zugunsten der Amtsinhaber in Istanbul und Ankara ab. Nach Auszählung von knapp 20 Prozent der Stimmen kam der amtierende Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoglu auf 49,6 Prozent der Stimmen, während sein von Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützter Hauptgegener Murat Kurum bei 41,6 Prozent lag, wie staatliche Medien berichteten. In Ankara lag Bürgermeister Mansur Yavas demnach nach Auszählung von 12,4 Prozent der Stimmen bei einem Anteil von 56,3 Prozent.
Die Wahl ist Ausdruck der großen Unzufriedenheit über die hohe Inflation von rund 67 Prozent. Der Mindestlohn, für den mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung arbeitet, reicht inzwischen nicht einmal mehr aus, um eine Familie gesund zu ernähren, geschweige denn für Miete und Kleidung.
Als zweieinhalb Stunden nach Schließung der Wahllokale die ersten Ergebnisse verkündet wurden, zeigte die Website der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu eine Landkarte, auf der der gesamte Westen des Landes rot eingefärbt war. Rot ist die Farbe der Oppositionspartei CHP. Dann brach der Server der Agentur zusammen.
Anders als bei den vorherigen Kommunalwahlen steuert die CHP nicht nur auf Siege in Küstenprovinzen und Metropolen zu, sondern auch in manchen konservativen Provinzen in Zentralanatolien, die bisher als Wählerbasis Erdogans galten. Die Kommunalwahl hat damit das Potential, die politische Landschaft der Türkei umzupflügen.
Bedenklich aus Sicht der AKP sind auch die Erfolge der Neuen Wohlfahrtspartei. Ihr Vorsitzender Fatih Erbakan ist der Sohn des früheren Erdogan-Mentors Necmettin Erbakan, der zu den Urvätern der islamistischen Bewegung in der Türkei zählt. Die Partei hatte sich erst kurz vor den Kommunalwahlen aus einem Bündnis mit der AKP losgesagt und spricht die gleichen Wählerschichten an. Erbakan trieb Erdogan mit Forderungen nach Rentenerehöhungen und einer Einstellung des Handels mit Israel vor sich her. In den bisherigen AKP-Hochburgen Sanlıurfa und Yozgat schien ein Sieg der Neuen Wohlfahrtspartei möglich.
Überschattet wurde die Wahl von Manipulationsvorwürfen. Die kurdische DEM-Partei warf der Regierung vor, Zehntausende Soldaten und Polizisten von außerhalb zum Wählen in mehrheitlich kurdische Gebiete im Südosten des Landes gebracht zu haben. Das Präsidialamt widersprach den Vorwürfen. Die Sicherheitskräfte seien in den jeweiligen Wahlbezirken registriert. Aus Sicherheitsgründen seien sie in Bussen zu den Wahllokalen gefahren worden.
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