Die immer weiter gehenden Demonstranten, die die deutsche Politik und Gesellschaft herausfordern, treffen sich im Norden Deutschlands, genauer gesagt in der zweitgrößten deutschen Stadt Hamburg. Bei der letzten Kundgebung sind über 1.000 Menschen gekommen, vor allem junge Männer.
Die Demonstrationen richten sich gegen die Medienberichterstattung über den Gazakrieg, doch wie fanatisch viele der Teilnehmer sind, kann man auf ihren Schildern lesen: „Deutschland – Wertediktatur“, oder „Kalifat ist die Lösung“. Kalifat heißt, nicht der Mensch, sondern Gott ist oberster Gesetzgeber – es gilt die Scharia, Kalifat bedeutet Geschlechtertrennung, Benachteiligung von Nichtmuslimen, Todesstrafe für Gotteslästerei und Ehebruch, keine Anerkennung staatlicher Grenzen. Wer das Kalifat fordert, fordert also die Abschaffung der Demokratie.
Auch wenn viele Beobachter nun meinen, dass es solche Tendenzen bislang nicht gab, ist diese Annahme nicht richtig. Allein in den vergangenen zwei Jahren kam es auf deutschen Straßen immer wieder zu Islamistendemonstrationen. Als sich die Bilder der jüngsten Demo verbreiten, äußert sich die Bundesregierung ungewöhnlich schnell und hart: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz fordert, gegen alle islamistischen Aktivitäten müsse „mit den Möglichkeiten und Handlungsoptionen unseres Rechtsstaates“ vorgegangen werden. Bundesinnenministerin Nancy Faeser verbindet das Thema gleich mit Abschiebungen: „Wer das Kalifat in Deutschland ausrufen möchte, der hat hier kein Zuhause und keine Zukunft.“ Bundesjustizminister Marco Buschmann rät den Islamisten, Deutschland zu verlassen, „wenn ihnen ein Kalifat lieber sein sollte“ als die deutschen Gesetze und Werte.
Überregionale Schlagzeilen hatte Hamburg schon am Osterwochenende gemacht, als 300 Personen ein „Kalifat-Geheimtreffen“ abhielten. Am selben Wochenende trafen sich 400 Islamisten zu einem Vortrag. Bereits ein Jahr zuvor, im Februar 2023, gab es in Hamburg eine Großdemonstration mit 3.500 Menschen, weil in Schweden ein Islamhasser einen Koran verbrannt hatte. Im Herbst 2023 dann versammelte sich ein Flashmob von etwa 500 Menschen, die gegen Israels Krieg in Gaza protestieren wollten, doch einige der Friedensdemonstranten brachten Holzlatten mit, am Ende flogen Flaschen und Steine auf die Polizei.
An all diesen Aktionen beteiligt war eine radikale Gruppe, deren harter Kern nach Erkenntnissen der Polizei nur aus etwa 20 Personen besteht: „Muslim Interaktiv“. Mutmaßlicher Kopf der Gruppe ist Joe Adade Boateng, ein 25 Jahre alter Hamburger mit deutschem Pass, der an der Universität auf Lehramt studiert. Bei Instagram nennt sich Joe Adade Boateng mit Vornamen Raheem – der Barmherzige. In seinen Videos behauptet er, er erkenne den Geltungsanspruch des Grundgesetzes an. Doch zugleich preist er die Vorzüge eines Kalifats für den Nahen Osten. Und bei den Demos seiner Gruppe „Muslim Interaktiv“ stehen die Schilder mit den Kalifat-Forderungen einfach im Raum, sodass man sie automatisch auf Deutschland bezieht.
Von Medien hält Boateng wenig, die vergangene Demonstration richtete sich explizit gegen die angebliche „mediale Hetze“ gegen Muslime. So inszenieren sich die Islamisten als Opfer von Diskriminierung, um selbst harmlos zu erscheinen. Auf der jüngsten Demo schwenkten sie Zeitungen, die mit blutroter Farbe beschmiert waren.
Dass es sich bei den Organisatoren der Demo jedoch um Extremisten handelt, steht für die Sicherheitsbehörden fest. „Muslim Interaktiv“ taucht seit Jahren im Verfassungsschutzbericht der Hansestadt auf. Im Herbst 2023 fand bei Joe Adade Boateng eine Hausdurchsuchung statt. Es ging um den mutmaßlichen Verstoß gegen ein Verbot israelfeindlicher Kundgebungen in Hamburg. Die Ermittlungen dauern noch an. Obwohl die Polizei also wusste, welche Gruppe den jüngsten Aufmarsch organisiert hat, konnte sie ihn nicht verhindern. Der Hamburger Polizeipräsident verbirgt seinen Frust nicht: Unerträglich sei, was bei der Demo zu sehen war. Aber alle Juristen seien sich einig gewesen, dass die erforderliche Gefahrenprognose für ein Demoverbot nicht vorlag. Es gab also keine eindeutigen Anzeichen, dass die Demonstration in Gewalt münden könnte. „Das ist schwer auszuhalten, aber die Systematik unseres Rechtsstaates“, sagt der Polizeichef.
Hamburg gilt neben Nordrhein-Westfalen und Berlin als ein Kerngebiet von Islamisten in Deutschland, seit sich hier vor dem 11. September 2001 die Terrorzelle um Mohammed Atta formierte. Damals ahnten die Behörden nicht, was geschehen würde. Heute sind sie alarmiert, aber ihnen fehlen die Mittel, um eine islamistische Indoktrinierung zu verhindern. Was man finde, wenn man den Spuren eines Mannes wie Boateng im Internet folge, sei brandgefährlich, sagt „Modus“, ein Zentrum für angewandte Deradikalisierungsforschung. Es beobachtet mediale Angebote, über die sich junge Menschen heutzutage radikalisieren: „Muslim Interaktiv“ und Boateng zählten hier zu den erfolgreichen Akteuren. Ihre Social-Media-Accounts hätten mehrere Zehntausend Follower, die meisten von ihnen männlich und im Teenageralter. Insgesamt beobachte man rund 280 YouTube-Kanäle, von denen einzelne bis zu 250.000 Follower erreichten. Hinzu komme eine ähnlich große Zahl von Angeboten in den sozialen Medien. Der Staat versuche bereits, diese Kanäle stillzulegen, auch die Accounts von „Muslim Interaktiv“ wurden schon mehrmals gelöscht oder gesperrt. Aber bald tauchen neue Accounts auf, und Joe Adade Boateng lächelte wieder von den Videokacheln. Bei Instragram hat die Gruppe nach der letzten Löschung derzeit zwar nur magere 4.000 Follower, bei TikTok mittlerweile schon wieder knapp 25.000.
Die Videos sind hochwertig produziert. Fast immer geht es um das Gleiche: der bösen Westen und wie er Muslime unterdrücke. Mal sind die Accounts religiös angehaucht, mal geben sie sich politisch. Und bewusst werden auch seriöse Themen gesetzt, echte Schmerzpunkte angesprochen, etwa Alltagsrassismus und wachsende Islamfeindlichkeit. Doch gegen Kritiker gehen die Islamisten hart vor. Seit dem 7. Oktober 2023 beobachten die Forscher, dass sich die Aufrufzahlen der Videos teilweise verdreifacht hätten. „Wenn ich mich im Internet mit dem Islam beschäftige, lande ich automatisch in dieser Blase.“ Für junge Menschen sei es schwer, die Propaganda zu durchschauen. „Extremisten haben da Deutungshoheit im digitalen Raum erlangt.“ Das hat Folgen in der realen Welt. Vier Jugendliche sollen zuletzt einen Terroranschlag in Nordrhein-Westfalen geplant haben, mit Messern oder Molotowcocktails. Das mögliche Ziel sollen Kirchen und Synagogen gewesen sein. Die Verdächtigen waren erst 15, 16 Jahre alt. Aus Sicherheitskreisen heißt es, die Jugendlichen seien als Nutzer islamistischer Kanäle im Internet unterwegs gewesen.
„Muslim Interaktiv“ und ähnliche Angebote sind Teil eines größeren Netzwerks, das hält der deutsche Verfassungsschutz für gesichert. Das Fernziel aller Islamisten ist die Einheit aller Muslime und schließlich ein weltweites Kalifat, wie auch die Terrorgruppe IS es errichten wollte. Islamwissenschaftlern zufolge spielt dabei das Narrativ, dass alle Muslime bedroht seien, eine entscheidende Rolle: Es ermögliche nicht nur, den Westen zum Feindbild zu verzerren, sondern auch alle reformorientierten, religionskritischen Muslime zu verteufeln. Sicherheitsbehörden sagen aber auch. die Mehrheit der Muslime lasse sich von solchen Feindbildern nicht beeindrucken. In Hamburg würde einigen Islamisten der Zutritt zu Moscheen verwehrt. Gruppen wie „Muslim Interaktiv“ verstünden es, die Diskriminierungserfahrungen von Migranten, insbesondere von Muslimen anzusprechen, aber sie gäben die falschen Antworten. Statt der Benachteiligung entgegenzuwirken, wollten sie Muslime dazu bringen, sich vom Staat und der deutschen Gesellschaft abzuspalten. Deshalb schließe man die Islamisten aus, wo es gehe – aber was im analogen Leben noch gut gelinge, sei im digitalen Raum schwer. Versuche man dort, dem Hass mit einem friedlicheren Islam zu begegnen, ernte man Cybermobbing, sogar Stalking. Man wolle daher mehr eigene digitale Angebote entwickeln, aber es fehlten Ressourcen. Muslimische Gemeinden konzentrieren sich auf klassische Bildungsarbeit in den Moscheen, bieten Workshops und sensibilisieren die Imame.
Und die Politik? Für sie ist der Islamismus bislang vor allem ein Sicherheitsthema. Als kürzlich der Iran mit Hunderten Raketen und Marschflugkörpern auf Israel schoss, wurden in Hamburg wieder Forderungen laut, das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) zu schließen – weil es von der Mullah-Regierung in Teheran kontrolliert werde. So sieht es der Verfassungsschutz. Das IZH betreibt die Blaue Moschee an der Hamburger Außenalster und steht im Verdacht, das Revolutionskonzept der iranischen Führung zu verbreiten. Mittlerweile läuft gegen das IZH ein Verbotsverfahren. Die Hamburger Behörden sammeln seit Jahren Beweise. Doch erst vor einem halben Jahr, im November 2023, rückte der Staat zu einer Durchsuchung im IZH und bei Institutionen an, die mit dem IZH in Verbindung stehen. In sieben Bundesländern wurden 54 Objekte durchsucht. Über 800 Beamte waren im Einsatz. Sichergestellt wurden unter anderem größere Bargeldmengen, Mobiltelefone, Laptops und Flugblätter. Mit Lastwagen wurde das Material abtransportiert.
Doch was bringt ein Verbot? Es könnte die knapp 30.000 Schiiten in Hamburg verprellen, die eben nicht radikal sind, sondern als besonders gut ausgebildet und gemäßigt gelten. Sie könnten eine Schließung des IZH als Angriff auf ihren Glauben verstehen und sich radikalisieren. Würde der Staat das IZH verbieten, könnte ein Vakuum in der Stadt entstehen. Hinterhofmoscheen, in denen sich radikale Prediger verselbstständigen, könnten die Folge sein.
Das gilt auch für die sunnitischen Extremisten von „Muslim Interaktiv“. Der Hamburger Polizeipräsident schob zuletzt die Verantwortung auf das Bundesinnenministerium: Erst wenn die Gruppe verboten sei, werde man auch ihre Aufmärsche besser verhindern können. Eine Entscheidung darüber, gar eine schnelle, ist aber nicht in Sicht. Nicht einmal auf der Lokalebene konnte sich die Politik einigen, energisch für ein Verbot einzutreten, SPD und Grüne lehnten einen Antrag der CDU ab. Nach dem jüngsten Aufmarsch der Islamisten bat die Polizei die Staatsanwaltschaft, zu prüfen, ob nicht doch Straftaten vorlägen, die künftig ein Verbot rechtfertigen könnten. Gemeint waren die Schilder zum Kalifat. Die Staatsanwaltschaft ist da aber wenig optimistisch. Bislang habe man nichts Strafbares gefunden. Das fällt wohl alles unter die Meinungsfreiheit. Also sind die Islamisten in Hamburg bis auf Weiteres geschützt durch die Freiheit, gegen die sie demonstrieren.
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