Wenn sich zwei Erzfeinde nach Jahrzehnten wieder annähern, dann wird das vertraute Freund-Feind-Schema durchgerüttelt: Auf einmal werden sogar die Freunde des einstigen Gegners als mögliche Partner gehandelt. Und Israel ist gerade etwas sprachlos.
Man möchte den vielleicht noch misstrauischen ehemaligen Feind ja nicht vor den Kopf stoßen. Vielmehr ist es Zeit für die ersten Vertrauensbeweise. Also werden gegenseitige Einladungen ausgesprochen. Und so lud Saudi-Arabien Irans Präsidenten Ebrahim Raisi ins Königreich ein und Teheran revanchierte sich mit einer Einladung an König Salman, so ein Sprecher des iranischen Außenministeriums.
Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass die Vokabel der „Multi-Front-Bedrohung“ alles andere als eine Untertreibung ist. Sie ist heute zutreffend wie nie, denn die Gegner Israels arbeiten immer enger zusammen. Die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen und aus dem Süden Libanons waren verbunden mit der vorherigen Eskalation auf dem Al-Aqsa-Plateau in Jerusalem. Im Hintergrund steht der Konflikt mit Iran: Feindschaft gegenüber Israel und entsprechende Vernichtungsphantasien sind eine Säule der Ideologie der Islamischen Republik, deren Propaganda das als „Widerstand“ verbrämt. Die iranischen Revolutionswächter haben eine Schattenarmee von getreuen Milizen errichtet, die etwa im Irak oder in Syrien ihr Unwesen treiben und von dort auch Israel bedrohen. Die wichtigste von ihnen ist die Hisbollah in Libanon, die stärkste militärische Kraft in dem Land, die einen Staat im Staate bildet – und das an Israel grenzende Südlibanon beherrscht.
Gleichzeitig finden plötzlich Treffen statt, die gerade noch undenkbar waren. Der syrische Außenminister Faisal Mekdad durfte in der saudischen Hafenstadt Dschidda vorbeischauen – ebenfalls der erste Besuch eines syrischen Ministers seit 2011. Eigentlich unterstützte Saudi-Arabien die syrische Opposition, doch die ist durch das Eingreifen der russischen und iranischen Kräfte stark geschwächt. Nun nähert sich Riad der Regierung von Syriens Präsident Baschar al-Assad an – und kommt damit Teheran entgegen.
Saudis hofieren Hamas
Darüber hinaus zeigt sich Riad auch dazu bereit, eine hochrangige palästinensische Hamas-Delegation zu begrüßen. Diese wird eine Umrah, eine kleine Pilgerfahrt in Mekka, verrichten, anschließend seien Gespräche mit saudischen Offiziellen geplant, so arabische Medienberichte. Hamas-Chef Ismail Hanija, dessen Stellvertreter Salih al-Aruri und der Auslandschef der Gruppe, Chalid Maschal, sollen Teil der Delegation sein.
Ein derartiger Besuch wäre der erste seit 2007. Damals übernahm die Hamas mit Gewalt die Macht über den Gazastreifen. Seitdem macht Riad die Hamas dafür verantwortlich, dass alle Versuche gescheitert sind, eine Friedensregelung mit der palästinensischen Fatah im Westjordanland zu erreichen. Außerdem sehen die Saudis die Nähe der Hamas mit der Muslimbruderschaft kritisch.
Zu einem Höhepunkt der Zerwürfnisse kam es 2019, als Riad Dutzende Palästinenser und Jordanier wegen „Bedrohung der Stabilität des Königreichs“ verhaftete – ihnen wurden Verbindungen zu einer namentlich nicht genannten „terroristischen Organisation“ vorgeworfen. Menschenrechtsorganisationen warfen Riad unfaire Massenverfahren und vage Anschuldigungen vor. Beobachter bewerteten die Verfahren als Zugeständnis an Israel und als Zeichen einer schrittweisen Annäherung. Als Hüter der heiligen Stätten im Islam kommt Saudi-Arabien im Konflikt mit Israel eine Schlüsselrolle zu. Doch die Annäherung scheint – auch aufgrund der rechtsnationalen Regierung in Israel – in weite Ferne gerückt zu sein.
Wenn es nach den Hamas-Funktionären geht, sollte stattdessen nun die Frage der palästinensischen Häftlinge in Saudi-Arabien ganz oben auf der Tagesordnung der Gespräche stehen. Grund zur Hoffnung haben sie wohl: Das Königreich hat im vergangenen Februar bereits zwei Palästinenser freigelassen. Damals äußerte der Hamas-Funktionär Issat al-Rischk die Hoffnung, dass dies ein „Auftakt dafür sei, eine neue Seite mit den Brüdern in Saudi-Arabien aufzuschlagen“.
Die Gespräche sind nicht der erste Versuch, die Beziehungen zwischen Hamas und Riad wiederherzustellen. Bereits im Juli 2015 hatte eine weniger hochrangig besetzte Hamas-Delegation dieses Ziel verfolgt. Vergeblich. Im Lichte der historischen Annäherung von Saudi-Arabien mit Iran wird es nun viel wahrscheinlicher.
Hisbollah langjähriger Partner von Hamas
Zugleich provoziert die Hisbollah im Libanon Israel gerade in gefährlicher Weise. Die Hinweise sind nicht eindeutig, aber offenbar versucht die vom Iran aufgebaute Miliz, selbst Anschläge in Israel zu begehen, statt das Land wie bisher von jenseits der Grenze mit Raketen zu beschießen.
Von diesen besitzt die Hisbollah aber mittlerweile derart viele, dass sie selbst Israels Luftabwehr – die wohl beste der Welt – in Bedrängnis bringen könnten. Dass Teheran seine Lieblings-Miliz an der israelischen Grenze gerade jetzt eskalieren lässt, ist ein Alarmzeichen.
Die libanesische Schiitenorganisation unterhält schon seit Jahrzehnten gute Beziehungen zu militanten Palästinensergruppen, insbesondere zu den sunnitischen Islamisten der Hamas. Die Zusammenarbeit ist laut Angaben aus Geheimdienstkreisen eng und erfolgt demnach auch in Abstimmung mit dem Regime in Teheran. „Die Hamas ist seit den frühen 1990er-Jahren in Libanon präsent, als die Israelis während der ersten Intifada 400 Hamas-Mitglieder aus Israel und der besetzten Zone in Südlibanon hinauswarfen“, erklärt ein Hisbollah-Fachmann der US-Denkfabrik Atlantic Council. „Sie haben zwei Jahre lang in Zelten in einem Niemandsland zwischen libanesisch kontrolliertem Gebiet und der Besatzungszone gelebt, die Hisbollah freundete sich mit ihnen an, bildete sie aus, und seitdem haben sie enge Beziehungen.“ Laut Angaben von Sicherheitsfachleuten unterhält die Hamas in Südlibanon Waffenlager und logistische Einrichtungen. Diese liegen zum Teil in den großen Palästinenserlagern, abgeriegelten Slums, auf die die libanesischen Sicherheitskräfte keinen Zugriff haben. Ohne Billigung der Hisbollah, so heißt es gemeinhin, könnten die militanten Palästinenser allerdings nicht in Südlibanon operieren.
Die Beziehungen zwischen Hisbollah und Hamas hatten gelitten, als sich die Hamas im Syrienkonflikt auf die Seite der Gegner von Gewaltherrscher Baschar al-Assad stellte, dem die Hisbollah massive Waffenhilfe leistete. Aber die Beziehungen sind längst wieder freundschaftlich – und die Organisationen stellen das jetzt bewusst zur Schau. Der Beirut-Besuch von Hamas-Anführer Ismail Hanijeh wurde öffentlich begangen, inklusive Gruppenfoto mit Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah. Schon vor Hanijehs Besuch hatte ein grenzüberschreitender Terrorangriff die neue Nähe gezeigt: Ein Palästinenser war Mitte März aus dem südlibanesischen Reich der Hisbollah nach Israel eingedrungen und hatte dort einen Sprengsatz platziert.
Dass die Palästinensergruppen und die Schiitenorganisation weiter zusammenrücken, verkompliziert den ohnehin schon brandgefährlichen Abschreckungswettbewerb an der libanesisch-israelischen Grenze. Die Hisbollah und Israel wandeln dort auf einem schmalen Grat zwischen Krieg und Frieden. Bei jedem Zwischenfall, etwa durch Raketenbeschuss, stellt sich die Frage, wie die Vergeltung ausfallen wird und ob diese einen weiteren Gegenschlag auslösen könnte, der eine nur schwer zu stoppende Eskalationsmechanik in Gang setzt.
Die Hisbollah kann in diesem Abschreckungswettbewerb jetzt zusätzlich die palästinensische Karte spielen, indem sie Angriffe ihren Verbündeten zuschreibt. Iran und seinen Alliierten verschafft das mehr Spielraum für Nadelstiche und Provokationen, weil die Hisbollah so die Möglichkeit hat, die eigene Täter- oder Drahtzieherschaft zu leugnen.
Israels Zurückhaltung kann gefährlich werden
Die gemäßigte Reaktion eines von inneren Konflikten geschwächten Israels könnte die Hisbollah ermutigen, die Grenzen immer weiter auszutesten. Dass von den zuletzt 34 aus Libanon abgefeuerten Raketen fünf das Abwehrsystem „Eiserner Dom“ überwanden, müsste der israelischen Führung Sorge bereiten. Denn die Hisbollah hat Zehntausende Raketen in ihrem Arsenal. Die Schiitenorganisation hat im libanesisch-israelischen Grenzgebiet auch die oft hilflos wirkende UN-Friedenstruppe zuletzt immer wieder provoziert. Sie unterhält Schießstände in der eigentlich demilitarisierten Zone. Und eine Hisbollah-treue Umweltorganisation hat direkt an der Demarkationslinie Stützpunkte eingerichtet, die sich leicht zu militärischen Zwecken ausbauen lassen. Hisbollah-Vizechef Naim Qassem sagte: „Die zionistischen Versuche, uns zu bedrohen und einzuschüchtern, werden keinen Erfolg haben.“
Netanjahus Kartenhaus fällt zusammen?
Netanjahus größte Leistungen liegen auf dem Gebiet der Außenpolitik, und sie hängen eng miteinander zusammen. Es war – erstens – Netanjahu, der mit erheblichem Druck und unablässigen Mahnungen die Aufmerksamkeit der Welt auf die Gefahr des iranischen Atomprogramms richtete.
Ohne sein Drängen wäre es vielleicht nie zu umfassenden Sanktionen und ernsthaften Verhandlungen mit Teheran gekommen. Die Polarisierung in diesem Konflikt nutzte Netanjahu – zweitens – in der für Israel und die Region denkbar nützlichsten Weise, indem er Friedensschlüsse arabischer Staaten mit seinem Land erreichte.
Die sogenannten Abraham Accords mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko nutzten in geradezu genialer Weise die negative Energie des Atomstreits für einen Wandel, der den Nahen Osten stabilisierte und Israel der Erfüllung eines Traums näherbrachte, den schon seine Mütter und Väter bei der Geburt des Staates träumten.
Klar ist, dass man in Jerusalem von der saudisch-iranischen Annäherung kalt erwischt wurde. Auch die daraus folgenden Entwicklungen bis hin zum Besuch der Hamas-Delegation in Riad geben reichlich Anlass zur Sorge. Vor allem muss der Premierminister um sein diplomatisches Lieblingsprojekt fürchten: eine Einbeziehung Saudi-Arabiens in die Abraham-Abkommen.
Diese Verträge waren 2020 vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump vermittelt worden, in einem ersten Schritt hatten sie zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den drei arabischen Staaten Vereinigte Arabische Emirate, Bahrain und Marokko geführt. Ziel war auch, eine gemeinsame Front gegen Iran aufzubauen – und von Anfang an war klar, dass Saudi-Arabien unbedingt dazugehören sollte. Als Netanjahu Ende Dezember wieder ins Premiersamt zurückkehrte, erklärt er dies explizit zu einer Priorität seiner Politik.
Netanjahus Hoffnung auf Zerwürfnis
Er hatte Anlass, sich dabei auf einem guten Weg zu wähnen: Zwar hat die Führung in Riad eine Annäherung an Israel offiziell stets an die Bedingung geknüpft, dass erst ein Ausgleich mit den Palästinensern gefunden werden muss. Es gab jedoch eine Reihe positiver Signale. Ende 2020 etwa berichteten die israelischen Medien von einem Geheimtreffen Netanjahus mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Nachdem US-Präsident Joe Biden im vorigen Sommer beide Staaten besuchte, öffneten die Saudis ihren Luftraum auch für israelische Flugzeuge.
Riads Schwenk in Richtung Teheran aber stößt Israel nun vor den Kopf. Netanjahu muss ihn gleich als mehrfachen Schlag verbuchen: Die Blütenträume mit Saudi-Arabien welken, der Erzfeind Iran ist gestärkt, die Hamas gewinnt an Akzeptanz – und obendrein hat auch noch Israels Opposition einen weiteren Angriffspunkt. Oppositionsführer Jair Lapid jedenfalls nennt die saudisch-iranische Annäherungen „einen gefährlichen Fehlschlag der israelischen Außenpolitik“.
Israels Partnerstatus wird in Frage gestellt
Es gab gute Gründe, auf weitere Abraham-Verträge zu hoffen. Nun ist all das wieder infrage gestellt. Die Emirate haben ihrem Botschafter in Israel Regierungskontakte bis auf Weiteres untersagt. Saudi-Arabien, mit dem Netanjahu den nächsten und strategisch wichtigsten Vertrag erzielen wollte, setzt stattdessen auf strategische Entspannung mit dem einst gemeinsamen Erzfeind Iran.
Die israelische Demokratie mag den emiratischen und saudischen Monarchen herzlich gleichgültig sein. Aber das Regierungs-Chaos in Jerusalem lässt Israel nicht mehr als verlässlichen Partner erscheinen, sondern als Staat, den sein Premier umbaut, um einerseits seinen Korruptionsprozessen zu entkommen, und andererseits die Interessen seiner ultrareligiösen Koalitionspartner zu bedienen, die den Konflikt mit den Palästinensern gezielt eskalieren.
Hier entlarvt die jüngste Entwicklung auch einen Irrtum der israelischen Konservativen bei ihrer Friedenspolitik am Golf. Israels Hoffnung auf einen Friedensschluss mit den Saudis beantwortete man aus Riad meist mit dem Hinweis, ein Frieden mit Israel bleibe undenkbar, solange der jüdische Staat keinen gerechten Frieden mit den Palästinensern geschlossen habe.
Dieses Argument nahm man in Jerusalem nie ganz ernst. Die Palästinenserfrage war auch für Bahrain und die Emirate kein Hinderungsgrund gewesen. Dabei unterschätzte man, dass Saudi-Arabien nicht wie die Emirate nur etwa eine Million Staatsbürger hat, sondern fast 40 Millionen, und dass die Meinung dieser Bevölkerung durchaus relevant ist für das Herrscherhaus der Al-Saud.
Gerät die Monarchie in den Verdacht, für wirtschaftliche Vorteile aus einem Frieden mit Israel die Palästinenser zu verraten, dann kann das für die Akzeptanz der königlichen Familie zum Problem werden, erst recht, wenn in Jerusalem eine Koalition regiert, deren Angehörige Deportationen von Arabern befürworten, Sympathie für die Verwüstung palästinensischer Dörfer durch jüdische Siedler erkennen lassen und vor Israel-Karten auftreten, auf denen auch ein Teil Jordaniens zum israelischen Territorium gehört.
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