Am 25. Juli 2021 befand ich mich inmitten einer kleinen Gruppe von Freunden in meiner Wohnung in dem ruhigen Viertel Cite de Pins im Stadtteil La Marsa der Hauptstadt Tunis. Wir waren eine bunt gemischte Gruppe ausländischer Diplomaten und einheimischer tunesischer Freunde und unterhielten uns in fröhlicher Runde. Plötzlich überkam meine tunesischen Begleiter eine ungewöhnliche Unruhe, und ihre Augen schienen an ihren Telefonen zu kleben. Eine schockierende Nachricht war eingetroffen: Der neue starke Mann des Landes, Präsident Kais Saied, hatte in einer unvorhersehbaren Wende der Ereignisse die Regierung entlassen und das Parlament suspendiert. Damit erlangte er de facto die Kontrolle über das Land.
Als die Musik der Veranstaltung in Stille überging, bot ich an, ein paar meiner Freunde nach Hause zu fahren. Als wir durch das Herz von La Marsa fuhren, erwartete uns bereits ein Meer von Menschen, deren Stimmen sich in Rufen und Liedern vereinten, die durch die Nacht hallten. Diese Szenerie, die sich in ganz Tunesien wiederholte – Tausende von Menschen waren auf die Straßen geströmt. Es lag eine spürbare Vorfreude in der Luft, eine Brise, die leise Hoffnung verströmte. Doch in den kommenden Monaten erlebten die Tunesier, wie ihr Präsident damit begann, ihre demokratischen Institutionen zu demontieren und das Land, das einst eine Bastion der Demokratie in der MENA – Region symbolisierte, wieder in das Gespenst der Diktatur zu stürzen – eine Vergangenheit, welche die Bevölkerung eigentlich hinter sich gelassen zu haben glaubte.
Vom Jahre 2019, als Präsident Kais gewählt wurde, bis zum besagten 25. Juli 2021 war in der tunesischen Gesellschaft ein Gefühl der schwindenden Hoffnung zu spüren. Zur selben Zeit begannen Preise anzusteigen und die Gehälter zu stagnieren. Das Versprechen der Demokratie schien ein ferner Traum zu sein. Doch jede Begegnung mit Tunesiern verströmte einen unverwechselbaren Hauch von Außergewöhnlichkeit. Im Vergleich zu den Nachbarländern drehten sich die Zahnräder der Demokratie hier tatsächlich, wenn auch unvollkommen. Das Parlament funktionierte trotz der ständigen internen Konflikte, die Justiz war zwar lethargisch, erfüllte aber ihren Zweck. Der Tourismus erlebte einen Aufschwung und erholte sich nach einer Handvoll terroristischer Vorfälle wieder allmählich. Dennoch wurde alles von einem allgemeinen Gefühl der Stagnation überschattet. Ein wiederkehrendes Gefühl der Verzweiflung gegenüber der politischen Klasse war allgegenwärtig.
Trotz ihrer Vorbehalte gegen die Aussetzung des Parlaments und den Übergang zu einer Herrschaft per Präsidialdekret begrüßte die tunesische Bevölkerung diesen Wandel mit vorsichtigem Optimismus. Gewöhnt an die aufkeimenden demokratischen Erstschritten seit dem Arabischen Frühling 2011, sahen sie in der Entscheidung von Präsident Kais einen möglichen Katalysator für Veränderungen, eine Maßnahme, die ihr Leben verbessern könnte. Dieses Gefühl war es auch, welches sie in jener Nacht auf die Straße trieb. Nach der Konsolidierung der Macht in seinen Händen begann Präsident Saied, per Dekret zu regieren und das parlamentarische Verfahren zu umgehen. Kritiker, darunter mehrere Oppositionelle und Journalisten, wurden festgenommen oder sogar inhaftiert. Im Juli 2022 brachte Saied ein erfolgreiches Referendum durch, das es ihm ermöglichte, eine neue Verfassung zu formulieren, die das Präsidentenamt in eine außerordentlich mächtige Instanz verwandelte und den Einfluss des Parlaments und der Justiz reduzierte. Präsident Saied vertritt die Idee einer Präsidentschaft, die eine direkte Verbindung zu den Bürgern aufrechterhält, und ist der Ansicht, dass die Rolle des Parlaments darin besteht, diese direkte Regierungsführung zu unterstützen, nicht sie auszugleichen.
Die gesetzgebende Nationalversammlung hatte ab dem Zeitpunkt nur noch eine beratende Funktion und schlägt Gesetze vor, die ihrer Meinung nach mit den Vorstellungen des Präsidenten übereinstimmen. Obwohl die Nationalversammlung im März wieder zusammentrat, war die Wahlbeteiligung mit weniger als 9 % miserabel. Die geringe Beteiligung an diesen Wahlen ist größtenteils darauf zurückzuführen, dass die wichtigste Oppositionspartei, Ennadha, ihre Teilnahme verweigerte. Auch die meisten Kandidaten waren der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt. Die Spannungen eskalierten, als Rached Ghannouchi, Vorsitzender der Oppositionspartei Ennahda, unter dem Vorwurf der Verschwörung gegen die Staatssicherheit und aufrührerischer Äußerungen festgenommen wurde. Seine Verhaftung und anschließende Inhaftierung, die von den USA als „besorgniserregend“ bezeichnet wurde, rief internationale Verurteilungen hervor. Präsident Saied stand auch unter Beschuss, weil er dringend die Abschiebung von Migranten aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara forderte und behauptete, sie seien Teil einer „Verschwörung“, die darauf abziele, die demografische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern. Einige Kritiker vermuten, dass der starke Mann Saied die Schwarzafrikaner als Sündenböcke für die Probleme des Landes benutzt und sich damit an seine Basis anbiedert. Leider kennen wir in Europa diesen Diskurs nur allzu gut.
Die tunesische Wirtschaft hat mit einer langsamer als erwartet verlaufenden Erholung zu kämpfen, die durch wachsende Handels – und Haushaltsdefizite aufgrund der weltweit steigenden Rohstoffpreise noch verschlimmert wird. Potenzielle Engpässe bei inländischen Produkten und eine erhöhte Inflation werden aufgrund möglicher Verzögerungen bei einem IWF – Paket erwartet. Der Finanzminister des Landes, Samir Saied, warnt vor einem Anstieg der Inflationsrate von 8,3 % im Jahr 2022 auf 10,5 % im Jahr 2023 aufgrund von Steuererhöhungen und gekürzten Lebensmittel – und Energiesubventionen. Darüber hinaus ist die Arbeitslosigkeit in Tunesien im ersten Quartal 2023 deutlich angestiegen: Die Zahl der Arbeitslosen lag bei über 655.000, im Vergleich zu 625.000 im letzten Quartal 2022. Nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts INS lag die Arbeitslosenquote im ersten Quartal 2023 bei 16,1 % und damit höher als im vorangegangenen Quartal (15,2 %).
In diesem Zusammenhang tritt Italien als wichtiger europäischer Verbündeter Tunesiens auf und verspricht umfangreiche Investitionen und Unterstützung bei den Verhandlungen eines Rettungspakets des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dieses verstärkte italienische Engagement zielt darauf ab, die gefährliche wirtschaftliche Situation Tunesiens zu stabilisieren, welches bereits am Rande des Bankrotts steht. Italiens proaktive Haltung wird von der dringenden Notwendigkeit bestimmt, die Stabilität in Tunesien aufrechtzuerhalten – ein entscheidender Faktor, um die wachsende Zahl von Migranten, die sich auf den Weg nach Italien machen, einzudämmen. Der italienische Außenminister Antonio Tajani sicherte bereits zu, dass Italien die Interessen Tunesiens bei den Verhandlungen mit dem IWF vertreten und sich für eine rasche Auszahlung der Kredite einsetzen wird. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint sich Italien nicht um die Demontage der demokratischen Institutionen und die ungerechte Inhaftierung politischer Gegner in Tunesien zu kümmern. Die Priorität scheint vielmehr darin zu liegen, die Migration an den tunesischen Grenzen zu stoppen. Rom scheint sich einfach an das traditionelle Spielbuch der europäischen Realpolitik zu halten – Deals mit weniger idealen Partnern abzuschließen – was sich in der Bereitschaft zeigt, Schecks auszustellen. Eine solche Politik hat sich in der Vergangenheit als unwirksam erwiesen.
Selbst nachdem Präsident Kais die Kontrolle übernommen hatte, sind keine Fortschritte zu verzeichnen. Die Bedingungen haben sich von einem bereits schlechten Zustand zu einem noch Schlechteren entwickelt. Auch wenn Präsident Kais immer noch eine gewisse öffentliche Gunst genießt, ist der Trend eindeutig abwärts gerichtet. Wie auch immer man seine Präsidentschaft bewerten mag, sie scheint von anhaltendem Misserfolg gekennzeichnet zu sein.
Die Lage in Tunesien sollte im größeren Rahmen des Arabischen Frühlings gesehen werden. Was in den letzten 12 Jahren in Tunesien geschah, ähnelt – bis zu einem gewissen Grad – der Situation in Syrien, Libyen und dem Jemen. Während diese Länder jedoch in Bürgerkriege verwickelt waren und sind, kam es in Tunesien zu einem Verfassungsputsch. Vor diesem Hintergrund verkörpert das Scheitern Tunesiens im Wesentlichen den Zusammenbruch des Arabischen Frühlings. Auch wenn ein demokratischer Rückschritt nie gut für die Entwicklung eines Landes ist, kann man nicht umhin festzustellen, dass ein Verfassungsputsch immer noch deutlich weniger zerstörerisch ist als ein offener Bürgerkrieg. Trotz des Zusammenbruchs und des demokratischen Rückschritts bleibt das strukturelle Gefüge des Staates intakt und bietet möglicherweise eine Plattform für zukünftige Erholung und Reformen.
Diese Situation erinnert stark daran, dass die vom Arabischen Frühling erfassten Länder in dieser Zeit im Allgemeinen mit ihrem demokratischen Übergang zu kämpfen hatten. In den meisten Fällen waren die entstehenden Demokratien nicht in der Lage, vollständig Fuß zu fassen, was häufig auf eine Kombination aus institutionellen Schwächen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und anhaltenden gesellschaftlichen Spaltungen zurückzuführen ist. Tunesien jedoch kam dem Ziel bemerkenswert nahe
diese Hürden zu überwinden und eine Zeit lang eine fragile, aber funktionierende Demokratie aufrechtzuerhalten. Dies zeugt von der Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit des tunesischen Volkes und stellt einen Hoffnungsschimmer dar, dass Tunesien trotz der derzeitigen Krise einen Weg zurück zur Demokratie finden kann.
Die anhaltende komplexe Krise in Tunesien symbolisiert ein breitere Herausforderung, mit dem der Westen in Zukunft wahrscheinlich konfrontiert sein wird: neue Formen und Ausprägungen von Autokratie. Diese werden oft von unseren strategischen Rivalen unterstützt und stellen eine immer größere Herausforderung für die demokratischen Werte dar. Tunesien, die Wiege des Arabischen Frühlings, die einst Optimismus über die Lebensfähigkeit der Demokratie in der MENA – Region verbreitete, deutet nun ironischerweise auf ein mögliches Abflauen, ja sogar auf ein mögliches Ende dieser epochalen Bewegung hin.
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