Sonntagabend in Wien-Favoriten: Durch reinen Zufall wartete ich auf dem Reumannplatz, dem Zentrum jenes Wiener Bezirks, der wie kein anderer in der österreichischen Hauptstadt geprägt ist von der türkischen Community, auf meinen Bus. Es war genau der Zeitpunkt, als die Wahlergebnisse aus der Türkei bekanntgegeben wurden. Auf diesen Zuruf aus Ankara machten sich auf einmal Autokolonnen auf den Weg, riesige Flaggen mit Halbmond und Stern, Erdogan-Plakate wurden herausgehalten. War kein Merchandise-Artikel verfügbar, wurden Handys hervorgeholt, die Szenen gefilmt für Familie, Freunde im In- und Ausland. Vereinzelt sah ich auch den verbotenen Wolfsgruß, ein Handzeichen, das in vielen europäischen Ländern verboten ist.
Die Stimmung war aufgeheizt, nicht aggressiv. Mit mir standen vier syrische Migranten an der Bushaltestelle: Sie schauten eher betreten auf die Erdogan-Show, wissend, was das Ergebnis für ihre Landsleute in der Türkei bedeuten könnte. Zudem waren sie schockierte über das „Zur Schau stellen“ eines türkischen Nationalismus von Menschen in Wien, die stolz in ihren Mercedes, Audi und BMW weitere fünf Jahre Nationalismus in der Türkei feierten. „Was feiern die eigentlich? Leben hier in Freiheit und Wohlstand, während ihre Verwandten daheim mit 80 Prozent Inflation nicht wissen, wie sie ihr Brot kaufen können und Kritiker jahrelang in den Knast müssen. Ich verstehe die Welt nicht mehr!“, sagte einer der Syrer zu mir, nachdem er bemerkte, wie mich ein türkisch-stämmiger Mann aus seinem Auto nicht gerade freundlich fragte, was ich denn ihn und seine 3×3 Meter große Erdogan-Fahne anschauen würde. Ich erwiderte nur – in einem höflicheren Ton -, dass ich einfach nur beobachten würde, was hier gerade abgeht. Er wollte erst aussteigen und die Diskussion mit mir fortsetzen, das Hupen der Fahrzeuge hinter ihm verhinderten dann aber das Gespräch. Auch er verabschiedete sich dann mit einem Wolfsgruß in meine Richtung.
Die Aussage des Syrers unterstrichen genau meine Gedanken, die ich hatte, als der Bus mit 20 Minuten Verspätung endlich den Reumannplatz erreichte. Lange gingen mir die Bilder nicht aus dem Kopf: Der nationalistische Pathos mitten in Europa von Bürgern, die Teil unseres Gemeinwesens sind, denen egal ist, wie Menschenwürde, Pressefreiheit, Minderheitenschutz in der Türkei mit Füßen getreten werden, welche Verantwortung Erdogan und seine AKP für die Toten in Ostanatolien haben, die beim verheerenden Erdbeben ihr Leben lassen mussten, wie dank der Wirtschafts- und Finanzpolitik die Armut im Land grassiert.
„Wie kann es sein, dass dass Erdogan das muslimische Leben in vielen Teilen Europas intensiver gestaltet und prägt? Welche Lehren ziehen wir und unsere Politik daraus?“ Diese Worte erreichten mich über Twitter von Murat Kayman, einem deutschen Publizisten und Mitbegründer der liberal-muslimischen Alhambra-Gesellschaft. Recht hat er, genauso wie das deutsche Regierungsmitglied Cem Özdemir, der noch am Sonntag in Interviews forderte, dem türkischen Ultranationalismus müsse nun von der europäischen Politik entgegengetreten werden, er sprach von einer „Zeitenwende“, die nach der Wiederwahl Erdogans endlich vollzogen werden müsse.
Auch wenn ich mit Staunen und Besorgnis die Massen an Erdogan-Bewunderern beobachtet habe, sollten die nackten Zahlen für sich sprechen: Es ist natürlich nicht die Mehrheit der türkischen Mitbürger in Europa, die sich für den Nationalismus und Islamismus Erdogan’scher Prägung entschieden haben. Die Ergebnisse aus den eher konservativen türkischen Communities in Europa sind zwar eindeutig, in Österreich stimmten 73,7 Prozent für Erdogan, in Deutschland 67,4 Prozent, in Frankreich 66,6 Prozent. In anderen europäischen Staaten schaut es aber anders aus: Die wahlberechtigten Türken in Schweden wählten mit 53 Prozent für Kilicgaroglu, in Großbritannien waren es 80,4 Prozent, in Italien 74,1 Prozent, in Spanien 71,1 Prozent, in der Schweiz 57,2 Prozent.
Auch sprechen wir hier nur von den abgegebenen Stimmen, es ist bei weitem nicht die „Türkische Community“ als Ganzes, die den Sultan des 21. Jahrhunderts wählten: In Deutschland leben ca. 3 Millionen türkisch-stämmige Mitbürger, davon sind 1,5 Millionen wahlberechtigt. Etwa die Hälfte von ihnen hat an den Wahlen teilgenommen, davon stimmten 67,4 Prozent für Erdogan. Im Ergebnis haben also bloß 17 Prozent aller in Deutschland lebender Türken für ihn votiert, die Mehrheit war entweder nicht wahlberechtigt, weil sie nicht mehr die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, oder aber aus unterschiedlichen Gründen kein Interesse an der Wahl hatten. Aber sie waren nicht sichtbar an diesem Wahlabend, sie haben die Bühne der Minderheit überlassen. Noch einmal der deutsche Minister Özdemir: „Dies sind keine Feiern harmloser Anhänger eines autoritären Politikers, es ist vielmehr eine Absage an unsere pluralistische Demokratie und ein Zeugnis unseres Scheiterns unter ihnen“.
Bei meinen Beobachtungen vor Ort waren es nicht nur Kopftuch-tragende Frauen mit ihren bärtigen Ehemännern, die Teil des Erdogan-Aufgebots waren. Rein äusserlich sah ich auch gerade viele Frauen, die ich aufgrund ihres Aussehens eher in die liberale Schublade packen würde. Den Erdogan-Standardwähler gibt es nicht! Sowohl in Arbeitermilieus als auch in besser gestellten Haushalten kann die AKP mittlerweile Wähler mobilisieren. Voreilige Schlüsse sollte man daher nicht ziehen. Die Anhänger der AKP weisen eine höhere Motivation auf, zur Wahl zu gehen, sie sind im Ausland besser organisiert als die Opposition. Erdogan und seine AKP verfügen in vielen euroopäischen Großstädten über eine ausgefeilte Organisationsstruktur. Dazu gehören die von der Diyant in Ankara kontrollierten Moscheenvereine, die als wichtige Quelle für AKP-Unterstützung gilt. Zusätzlich konsumieren noch immer viele Einwanderer hauptsächlich türkische Medien konsumieren. Erdogan kontrolliert die Medien, auch die Privaten.
Diejenigen, die Erdogan ihre Stimme gaben, wollten ein Zeichen setzen mit ihrer starken Identifikation mit der Herkunftsgesellschaft und als Reaktion auf die Mobilisierungsbemühungen des Präsidenten. Aber auch sind es viele Stimmen von Menschen, die Anfang der 1960er Jahre im Zuge der Arbeitsmigration nach Deutschland kamen, sie und ihre Familien stammen aus dem religiös-konservativ geprägten Kernland Anatolien. Entsprechende Wertvorstellungen seien dann an die nächsten Generationen weitergegeben worden. Und die vielen jungen Erdogan-Verehrer? Es war wohl bei einigen eine Art Trotzreaktion: Sie haben noch immer das Gefühl, der Stellenwert von Türken oder Muslimen in Teilen Europas sei gering. Und dann kommt ein Präsident, der ihnen das Gefühl gibt, diese Wertigkeit anzuerkennen, ihre Zugehörigkeit zur Türkei zu betonen und nicht zuletzt auch ihre Emotionen, ihre Herzen anzusprechen.
Der Erfolg Erdogans bei den Auslandstürken ist aber auch ein Denkzettel für die europäische Politik. Wir haben es offensichtlich nicht geschafft, die Früchte einer liberalen Gesellschaft zu vermitteln und es ist uns nicht gelungen, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie hier vollständig willkommen sind. Wenn sich auch in der zweiten oder dritten Generation hier lebende Türken noch nicht von der Aufnahmegesellschaft anerkannt fühlen, kann das dazu führen, dass sie sich auf die Türkei zurückbesinnen, und auf diesen autoritären Führer.
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