Der Sarg, in dem der Leichnam der türkisch-amerikanischen Aktivistin Ayşenur Ezgi Eygi letzten Monat nach Istanbul geflogen wurde, war in eine türkische Fahne gehüllt. Soldaten trugen ihn aus dem Flugzeug der Turkish Airlines. Es kam am Morgen aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, weil Direktflüge aus Israel in die Türkei wegen der Spannungen zwischen beiden Ländern schon vor Monaten ausgesetzt wurden.
Eygi war im Westjordanland in einem Dorf in der Nähe von Nablus bei einer Demonstration gegen den Außenposten israelischer Siedlungen erschossen worden. Es war das erste Mal, dass sie als eine von vielen ausländischen Freiwilligen bei den Aktionen der Organisation International Solidarity Movement dabei war. Die Sechsundzwanzigjährige hatte erst vor Kurzem an der Universität von Washington ihren Abschluss in Psychologie und nahöstlichen Sprachen gemacht. An ihrer Universität hatte sie sich bereits an propalästinensischen Protesten beteiligt. Die israelische Armee teilte mit, eine Untersuchung durch die Militärpolizei habe ergeben, dass Eygi „indirekt und ohne Absicht“ von einer Kugel israelischer Soldaten getroffen worden sei, die auf den Hauptverantwortlichen eines „Aufruhrs“ der Proteste gerichtet gewesen sei.
Demnach sei es während gewaltsamer Ausschreitungen zu dem Schuss gekommen, als Dutzende „palästinensische Verdächtige“ Reifen verbrannten und Steine auf israelische Sicherheitskräfte warfen. Man wolle den Leichnam untersuchen, doch der wurde von palästinensischer Seite nicht herausgegeben. Die „Washington Post“ stellte dem allerdings das Ergebnis eigener Recherchen gegenüber. Die Zeitung hatte eigenen Angaben zufolge mehr als 50 Videos analysiert, die rund um den Vorfall aufgenommen worden waren, und 13 Augenzeugen befragt. Demnach befand sich Eygi zum Zeitpunkt des tödlichen Schusses mehr als 200 Meter von dem Bereich entfernt, an dem es zuvor zu Ausschreitungen gekommen war. Zudem soll der eigentliche Höhepunkt der Auseinandersetzung schon eine halbe Stunde zurückgelegen haben. Aus der Rekonstruktion der „Washington Post“ lässt sich eine Fülle von Details entnehmen, die typisch sind für die Auseinandersetzungen im von Israel besetzten Westjordanland.
Der israelische Außenposten Evyatar, gegen den sich die Proteste richteten, war 2021 illegal auf einem Hügel im sogenannten C-Gebiet errichtet worden, in dem Israel die alleinige Kontrolle ausübt. Die Siedlerbewegung konzentriert sich seit Jahren auf diese Gebiete, um die palästinensischen Bewohner sukzessive aus dem C-Gebiet zu verdrängen. Im Juni hatte die israelische Regierung den Außenposten nachträglich legalisiert, obwohl dessen Errichtung wie die der anderen israelischen Siedlungen gegen Völkerrecht verstößt. Regelmäßig kamen die palästinensischen Anwohner der Gegend freitags auf einem Spielplatz nahe dem Außenposten zum Gebet zusammen, um gegen den Siedlungsbau zu protestieren. Wie häufig bei solchen Aktionen waren zahlreiche israelische und internationale Aktivisten anwesend, um die Palästinenser vor Übergriffen durch gewalttätige Siedler oder die Sicherheitskräfte zu schützen und Rechtsbrüche zu dokumentieren. Nach dem Gebet zog eine Reihe jüngerer Palästinenser offenbar von dem Spielplatz vor den Außenposten. Von wem die Eskalation ausging, ist schwer zu rekonstruieren. Nach Angaben der Aktivisten setzten die Sicherheitskräfte sehr bald Tränengas und scharfe Munition ein. Die Protestierenden entzündeten Autoreifen und warfen Steine. Eygi und andere Aktivisten hätten sich nach der Eskalation schnell in einen rund 200 Meter entfernten Olivenhain zurückgezogen, legt die Rekonstruktion der Ereignisse nahe. Anschließend beruhigte sich die Situation demnach. Vor dem tödlichen Schuss hatten Aktivisten laut „Washington Post“ israelische Scharfschützen auf einem Hausdach gesehen. Die hätten in Richtung der Aktivisten gezielt. Was genau an diesem Freitag geschah, wird sich wie in vielen ähnlichen Fällen möglicherweise nicht aufklären lassen.
Doch Eygis Tod belastet wieder einmal die türkisch-israelischen Beziehungen. Auch aus Amerika, wohin ihre Familie kurz nach ihrer Geburt ausgewandert war, kam Kritik am Vorgehen der israelischen Soldaten. Der amerikanische Außenminister Antony Blinken nannte den Vorfall „absolut inakzeptabel“ und verlangte „fundamentale Änderungen“ im Vorgehen des israelischen Militärs im Westjordanland. Das Weiße Haus teilte mit, dass Präsident Joe Biden „empört und tief traurig“ sei über Eygis Tod. Zuvor hatten deren Angehörige in den USA Biden dafür kritisiert, dass er sie nicht persönlich angerufen habe. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warf dem israelischen Militär in gewohnt scharfer Rhetorik vor, Eygi „heimtückisch ermordet“ zu haben. Die türkische Staatsanwaltschaft hat nach Angaben von Justizminister Yilmaz Tunç Ermittlungen eingeleitet, um jene zu identifizieren, die für die „Tötung“ der jungen Aktivistin verantwortlich seien. Tunç kündigte an, dass die Türkei internationale Haftbefehle in Form sogenannter Roter Fahndungsausschreibungen von Interpol ausstellen werde. Es gebe Fotos von den Verantwortlichen. „Wir haben Beweise in der Hand”, sagte Tunç. „Wir werden ihre Festnahme verlangen.“ In der türkischen Bevölkerung stößt Eygis Tod auf große Anteilnahme. In der türkischen Politik wird Israel parteiübergreifend für ihren Tod verantwortlich gemacht.
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