Für die deutsche Regierung und deren Parteien wird die Asyl- und Migrationsdebatte langsam aber sicher ungemütlich. In den Kommunen wächst die Wut über die wachsende Zahl Geflüchteter, es fehlen Unterkünfte, Bürger schlagen Krach, angefeuert von Rechtsextremisten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser lädt zum Flüchtlingsgipfel, die mitregierenden Grünen, bislang ein Hort von Toleranz und Willkommenskultur, streiten öffentlich über einen schärferen Kurs in der deutschen Asylpolitik. Und Kanzler Olaf Scholz, typisch für sein Verständnis von politischer Kommunikation, taucht unter und holt nicht den Gipfel ins Kanzleramt, sondern schiebt an das Innenministerium ab.
Seit Antritt der Bundesregierung hat Deutschland von seiner Regierung rein gar nichts Zukunftsweisendes in der Migrationspolitik gehört. Der Regierungschef nehme die Flüchtlingsfragen „sehr ernst“. Er habe sich „sehr bemüht, das Thema intensiv zu bearbeiten“. Man könnte es auch anders ausdrücken: Beim Unruhethema Flucht und Asyl überlässt Scholz die Verantwortung lieber anderen.
Schon die frühere Bundesregierung hat versucht, in Zeiten hoher Flüchtlingszahlen Druck aus dem Kessel zu nehmen, indem verstärkte Abschiebungen angekündigt wurden. Innenminister Horst Seehofer, der in Migrationsfragen stets eine harte Gangart forderte, versprach konsequente Rückführungen und schärfere Regeln. Die Zahl der Abschiebungen aber stieg nicht, im Gegenteil. Auch der immer gleiche Vorschlag, Geflüchtete doch an den EU-Außengrenzen festzuhalten, bleibt fern der Wirklichkeit. Kein Staat, auch kein nordafrikanischer, sieht ein, warum er Europas Asylprobleme auf seinem Boden lösen sollte, etwa indem er riesige Abschiebegefängnisse baut.
Nun sind es die Politiker der Städte und Kommunen, die Alarm schlagen. Und es sind nicht die üblichen Verdächtigen aus dem konservativen und rechten Lager, die Kritik an der derzeitigen Asylpolitik üben. Vielmehr sind es Grüne und Sozialdemokraten, die sich nicht mehr zu helfen wissen ob der anhaltend hohen Flüchtlingszahlen, sei es aus der Ukraine, aus der MENA-Region oder Ostasien.
Besonders innerhalb der Partei der Grünen kommt es nun zu einer offenen Debatte darüber, wie Deutschland in Zukunft mit der wachsenden Zahl von Migranten umgehen kann und soll. Besonders eine Gruppe von realpolitischen Grünen prägt die innerparteiliche Debatte. Mit einem „Memorandum“ gingen sie an die Öffentlichkeit und rühren damit an grünen Tabus. Deutschland sei wieder Ziel von sehr vielen Migranten, heißt es in dem Text, „wir erleben jetzt wieder, dass wir auf diese Migration im Grunde nicht vorbereitet sind“.
Die Rede ist von „überforderten Kommunen“, und „fehlenden Unterkünften“, beklagt wird auch, dass es „kein Konzept für eine gelungene Integration oder die konsequente Rückführung von Geflüchteten in ihre Heimat“ gebe. Die Debatte darüber müsse von „Menschlichkeit und Empathie geprägt sein, aber ohne Blauäugigkeit und das Verschweigen von Problemen“.
Deutsche Migrationspolitik blauäugig, Probleme, die verschwiegen werden? Das sind Töne, die man so aus dem grünen Kosmos selten hört. Bei den „Vert Realos“ handelt es sich um einen Zusammenschluss grüner Realpolitiker, darunter viele Veteraninnen und Veteranen der Partei: Die ehemalige Chefin der Europafraktion der Grünen, Rebecca Harms, gehört dazu, der frühere Fraktionschef im Bundestag, Rezzo Schlauch, auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat das Memorandum unterschrieben.
Deutschland sei faktisch seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, betonen die Autorinnen und Autoren. Es gebe aber kein klares Integrationskonzept, die Migranten „wissen nicht, was von ihnen erwartet wird“. Grüne Migrationspolitik müsse sich an den Regeln der freiheitlich demokratischen Grundordnung orientieren – etwa der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Trennung von Staat und Religion. Der „schleichenden Erosion dieser Werte unter dem Banner einer falschen Toleranz“ gelte es „entschieden entgegenzutreten“. Es sei zudem ein Unterschied zu machen „zwischen Asylbewerbern, Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen und Menschen, die ein vor allem wirtschaftlich besseres Leben suchen“.
Die Gewährung von Asyl setze voraus, „dass die Asylbewerber beim Aufnahmeverfahren mitwirken“ und „ihre Herkunft nicht verschleiern und nicht straffällig werden“, heißt es weiter. Ansonsten verfalle „das Asylrecht und damit das Aufenthaltsrecht, was auch eine zügige Abschiebung nach sich ziehen“ müsse.
Während der grüne Parteichef Nouripour eine klare Positionierung zum Memorandum vermied, läuft die Diskussion in der Partei auf Hochtouren. Dass der Oberbürgermeister von Tübingen und ewige innerparteiliche Kritiker grüner Grundpositionen Boris Palmer bei dem Papier mit von der Partie ist, stößt – erwartbar – manchen sauer auf. Mitglieder haben Palmer schon beigestanden, als er vom Landesvorstand der Grünen in Baden-Württemberg aus der Partei gedrängt werden sollte. Die Mitgliedschaft des erfolgreichen Kommunalpolitikers ruht nach einem Vergleich vor dem Landesschiedsgericht der baden-württembergischen Grünen noch bis Ende des Jahres. In dem Papier der „Vert Realos“ gibt es deshalb einen Subtext: Boris Palmer ist in die parteiinterne Debatte wieder eingebettet.
So kritisierte der Bundestagsabgeordnete Julian Pahlke aus Niedersachsen auf Twitter, wenn „Palmer irgendwo einen Brief unterzeichnet, unterschreibt man nicht mit. Grundregel.“ Den Verfassern hielt er „abgegriffene Konzepte“ vor, ihre Ideen seien „fachlich falsch“.
Der grüne Oberbürgermeister aus Hannover, Belit Onay, beklagte gar „eine toxische Grundhaltung in der Migrationsdebatte“. Die Aussagen träfen seiner Einschätzung nach nicht auf breite Unterstützung in der Partei, sagte er . Auch der Altlinke Jürgen Trittin langte zu und verglich die „Vert Realos“ mit der rechtskonservativen Werte-Union. Beide Gruppen lieferten „Steilvorlagen für die Konkurrenz“, schrieb er auf Twitter.
Während aus Niedersachsen Gegenwind kam, äußern sich andere Spitzenpolitiker aus der Partei eher verhalten positiv. Das Papier sei zwar zugespitzt, jedoch „ein Beitrag zur dringend notwendigen Debatte“. Wer Probleme „komplett wegwischt, entfernt sich von der Aufgabe guter Politik“, sagt einer. Der Versuch, das Memorandum über einen Kontaktschuldvorwurf auszubremsen, nach dem Motto „Wir sind die Guten, Palmer ist böse“ scheint damit misslungen.
Da ist nun einerseits die Gruppe der grünen Kritiker an der gegenwärtigen deutschen Asylpolitik. Um der eigenen Regierung nicht in den Rücken zu fallen, versucht nun die „andere Gruppe“ innerhalb der Grünen, das Thema für sich wieder zu gewinnen: Angesichts des wachsenden Zuzugs von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und Asylzuwanderern aus anderen Staaten erheben sie Forderungen an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), neben der Verteilungs- und der Aufnahmefrage müsse bei der Integrationsoffensive noch mehr drin. „Wir wollen endlich, dass Geflüchtete nicht mehr verpflichtet werden, in Erstaufnahmeeinrichtungen zu wohnen, obwohl sie bei Verwandten unterkommen könnten,“ sagt eine grüne Spitzenpolitikerin. Damit würden zügig freie Kapazitäten geschaffen, die Integration erleichtert und die Unterbringung in Turnhallenvermieden. „Wir wollen, dass Arbeitsverbote für Geflüchtete – gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels – endlich der Vergangenheit angehören, die entsprechende Gesetzreform muss die Innenministerin nun zügig auf den Weg bringen.“
Die zunehmend angespannte Lagebei der Aufnahme von Migranten gebiete es, die gesamtstaatlichen Aufgaben zwischen Bund, Ländern und Kommunen zur Unterbringung und Verteilung ständig neu zu justieren. Der Wunsch nach einem „Flüchtlingsgipfel“ mit dem Kanzler, den die Kommunen und auch die Unions-Fraktion gefordert haben, sei berechtigt.
Dabei dürfe es jedoch nicht darum gehen, das Grundrecht auf Asyl infrage zu stellen, sagt der grüne Bürgermeister Belit Onay. Die jüngsten Zahlen zeigten, dass neben der Ukraine die wichtigsten Herkunftsländer von Asylzuwanderern die Hauptkriegsgebiete Syrien, Afghanistan, Irak und Iran seien und zudem viele politisch Verfolgte aus der Türkei kämen.
Er fordert eine bessere und dauerhafte Unterstützung durch Bund und Länder für Städte und Landkreise. „Allerdings darf eine akute Belastungssituation der Kommunen nicht dazu führen, dass eine zeitgemäße und moderne Zuwanderungspolitik diskreditiert wird“.
Die Bundesregierung hat nun mit Joachim Stamp einen Sonderbeauftragten eingesetzt, der Rückführungsabkommen mit Herkunftsstaaten aushandeln soll. Das ist immerhin ein Versuch. Aber selbst wenn der neue Abschiebungsbeauftragte Erfolg haben sollte, Deutschlands Flüchtlingsfrage wird damit nicht gelöst.
Statt falsche Erwartungen zu wecken, muss jetzt in der Einwanderungsfrage eine klare Sprache gesprochen werden, und zwar im Kanzleramt. Ja, es kommen noch mehr Geflüchtete, viele weder reich noch gebildet. Sie müssen untergebracht und wo immer möglich für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden. Das kostet. Der Rechtsstaat wird auch mit Straftätern fertig werden müssen.
Es reicht also nicht, wenn Innenministerin Faeser beim Flüchtlingsgipfel den Kommunen mehr Geld hinlegt. Es wird jetzt auch ein Kanzler gebraucht, der überzeugend und beharrlich erklärt, warum Deutschland durch Einwanderung gewinnt, trotz allem. Duckt Scholz sich weiter weg, gewinnen andere die Oberhand: die Ängste und das Ressentiment.
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