So weit ist es schon gekommen: Deutsche Verbände warnen vor Reisen in die Türkei, wenn man sich vorher kritisch über die dortige Regierung geäußert hat. Grund für diese Warnung, beispielsweise durch den Deutschen Journalisten-Verband /DJV), ist die Verhaftung der deutschen Abgeordneten Gökay Akbulut in der Türkei letzten Monat. „Die Festnahme einer deutschen Staatsbürgerin nur aufgrund von öffentlichen Meinungsäußerungen ist inakzeptabel für die Bundesrepublik Deutschland“, sagte der CDU-Abgeordnete Wadephul. „Das muss die Bundesregierung gegenüber der türkischen Regierung unmissverständlich klarmachen.“ Der Grünenabgeordnete Max Lucks, Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag, sagte, er kenne die Linkenpolitikerin „als aufrechte Demokratin“. Er habe ihr seine „volle Solidarität und Unterstützung zugesagt“, nachdem er von dem Vorfall erfahren hatte. Die „kurzzeitige Ingewahrsamnahme“ Akbuluts trotz Diplomatenpasses sei „ein nicht zu entschuldigender Ballast für die deutsch-türkische Freundschaft“.
Akbulut hatte bei der Einreise in die Türkei erfahren, dass gegen sie ein Haftbefehl vorliegt. Anschließend war die Politikerin der Partei „Die Linke“ mehrere Stunden lang festgehalten worden, auch nachdem sie sich als Bundestagsabgeordnete ausgewiesen hatte. Ihr sei nach eigenen Aussagen „Terrorpropaganda“ vorgeworfen worden. Dabei ging es offenbar um Einträge in sozialen Medien sowie um politische Äußerungen und Reden zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und zur Lage der Kurden. Im Jahr 2019 kritisierte sie zum Beispiel eine türkische Militäroffensive in Nordsyrien, als die Armee die von kurdischen Milizen dominierten Demokratischen Kräfte Syriens angriff. Die Polizei nahm die deutsche Abgeordnete auf die Polizeistation und sagte ihr, man werde sie einem Richter vorführen. Akbulut informierte unverzüglich einen Anwalt und bat die deutsche Botschaft in Ankara dringend um Hilfe. Auf höchster Ebene fanden Gespräche zwischen beiden Ländern statt. Ein paar Stunden später wurde Akbulut beschieden, ihre Akte sei gelöscht worden, sie könne gehen. Sie reiste sofort aus.
Eine solche Festnahme ist kein Irrtum, sie ist Teil einer Einschüchterungstaktik. Denn die Erwartung ist, dass andere Regimegegner von dem Fall erfahren, sich voller Angst fragen: „Wenn die so mit einer Frau umgehen, die Immunität genießt, was machen sie dann erst mit uns?“ – und schweigen. Auf diese Weise wird außerdem dafür gesorgt, dass Erdogans langer Arm über die Grenzen der Türkei hinausreicht. Kritik an ihm soll so sogar in Deutschland verhindert werden.
Seit Langem erweitert Erdogan mit dieser Methode seinen Einflussbereich. Vor fünf Jahren bereits sagte sein Sprecher Ibrahim Kalin: „Flüchtige Regimegegner werden den Atem des türkischen Staates auch in den Ländern im Nacken spüren, in die sie gegangen sind.“ Nach den jüngsten Wahlen übernahm Kalin nun die Leitung des Geheimdienstes; sein dortiger Vorgänger Hakan Fidan wechselte zeitgleich im Juni an die Spitze des Außenministeriums. Die Journalistin Barçin Yinanç beschrieb kürzlich in einem Artikel, wie der neue Minister das Außenministerium in eine Art Nachrichtendienst umbaut: Fidan habe Schlüsselpositionen des Ministeriums mit seinen Kadern vom Geheimdienst besetzt; er habe das WLAN im Amt abschalten lassen und die interne Verteilung von Protokollen eingeschränkt.
Wadephul von der konservativen deutschen CDU, normalerweise keine Partei, die die Positionen der Linkspartei teilt, hält die von Akbulut geforderte Aufhebung des PKK-Verbots für falsch. Er sagt aber auch, dass Deutsche dies kritisieren dürfen, „erst recht natürlich als Parlamentarier“. Mit Blick auf die neu erwachten Bestrebungen der Türkei auf eine baldige Mitgliedschaft in der Europäischen Union sagt der Politiker: „Eine Türkei, die immer wieder vorgibt, möglichst schnell in die EU zu wollen, kann sich derartige Verletzungen rechtsstaatlicher europäischer Standards nicht erlauben.“
Die Deutsch-Türkische Parlamentariergruppe plant im nächsten Monat eine Reise in die Türkei. Der Vorsitzende unterstreicht indes, dass diese nur mit Akbulut stattfinden werde. „Wir werden sicher nicht von Autokraten und einer politisch instrumentalisierten Justiz eine Delegation des Bundestages abhängig machen.“ Sollte die Reise stattfinden, werde die Gruppe auch die „Angst vieler deutscher Staatsbürger, bei einer Einreise aus politischen Gründen festgenommen zu werden, thematisieren“.
Das Auswärtige Amt warnt auf seiner Seite davor, dass deutsche Staatsangehörige willkürlich festgenommen, an der Einreise in die Türkei gehindert oder auch mit einer Ausreisesperre belegt werden können. Vor allem aufgrund des weit gefassten Terrorismusbegriffs in der Türkei können etwa das „bloße Teilen, Kommentieren oder ‚Liken‘ von Beiträgen in sozialen Medien“ ausreichen für eine Strafverfolgung. Oft berufen sich die Behörden dabei auf die Unterstützung von beziehungsweise Propaganda für als terroristisch eingestufte Organisationen. Zu diesen zählen unter anderem der sogenannte „Islamische Staat“ oder die PKK.
Laut deutscher Regierung wurde seit Juli 2022 in 51 Fällen Deutschen die Einreise in die Türkei verweigert. 64 deutsche Staatsangehörige waren zu jenem Zeitpunkt mit einer Ausreisesperre belegt. Bei 18 von 39 im vergangenen Jahr verhängten Ausreisesperren ging es demnach um Vorwürfe der Propaganda für eine Terrororganisation, die Mitgliedschaft in oder die Unterstützung einer solchen.
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) hat Journalisten und Medienschaffenden von beruflichen sowie privaten Reisen in die Türkei abgeraten. Die vorübergehende Festnahme von Gökay Akbulut bei ihrer Einreise in die Türkei zeige „ein weiteres Mal, dass die Erdogan-Autokratie ihre Kritiker als militante Staatsfeinde betrachtet und verfolgt, wenn sie die Möglichkeit dazu hat“, sagte der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall. Wenn selbst die parlamentarische Immunität einer Abgeordneten nicht vor einer Festnahme schütze, sei die Gefahr für Journalistinnen und Journalisten umso größer. „Wer sich als Journalist schon einmal kritisch in den eigenen Beiträgen und in den sozialen Netzwerken über die Türkei, ihren Präsidenten oder die Regierungspartei AKP geäußert hat, sollte sich von dem Land fernhalten.“ Alles andere sei ein unkalkulierbares Risiko.
Wäre Gökay Akbulut keine Abgeordnete des Bundestages und hätte die deutsche Botschaft nicht auf höchster Ebene eingegriffen, säße sie vermutlich sehr lange in einem türkischen Gefängnis.
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