Die Aussage des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff, der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, war nur ein kurzer Satz, aber einer mit grosser Wirkung. Über kaum einen Satz wurde in Deutschland so lange und so leidenschaftlich gestritten. Auch in Wulffs eigener Partei, der CDU. Im neuen Grundsatzprogramm der Christlichdemokraten taucht er zwar in abgewandelter Form wieder auf, jedoch mit einem Zusatz: Ein Islam, der „unsere Werte nicht teilt“, gehöre ausdrücklich nicht dazu.
14 Jahre und der 7. Oktober liegen zwischen Wulffs Satz und dem neuen CDU-Grundsatzprogramm. Der Versuch, islamische Verbände zu deutschen Vereinen zu machen, ist gescheitert, ausländische Regierungen wie Erdogans Türkei nehmen weiterhin mehr Einfluss auf deutsche Muslime als der deutsche Staat. Zahlreiche neue Koordinierungsstellen und steuerfinanzierte „Empowerment»-Projekte für «junge Muslim*innen“ konnten das genauso wenig verhindern wie islamischer Religionsunterricht an staatlichen Schulen.
Was hinsichtlich der deutschen Islampolitik eine grundsätzliche Frage aufwirft: Weiss der Staat eigentlich, was er tut? Die Antwort ist einfach: Nein, er weiss es nicht! Er weiss nicht einmal, wie viele Muslime im Land genau leben, geschweige denn, wo. Schlimmer noch: Er will es gar nicht wissen.
Im vergangenen Monat veröffentlichte Deutschlands Statistikbehörde mit einem halben Jahr Verspätung die ersten Ergebnisse der Volkszählung 2022. Dort erfuhr die Öffentlichkeit vieles über diverse Brennstoffarten, mit denen die Deutschen heizen, welche Bildungsabschlüsse sie haben und wie hoch ihre Mietzahlungen sind. Mehr als zehn Millionen Bürger hat das Statistische Bundesamt dafür nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und befragt.
Bei der Auswertung bediente sich die Statistikbehörde auch bei den Melderegistern. Mit diesen Daten lässt sich ziemlich genau zeigen, in welchen deutschen Städten und Gemeinden die Mehrheit römisch-katholisch oder evangelisch ist. Wer etwas zum Anteil der Muslime erfahren will, wird enttäuscht. Denn die Behörde kennt ihn selber nicht – weil sie ihn gar nicht erhoben hat.
Es klingt absurd, aber Deutschland, das seit Jahrzehnten über die Integration von Muslimen debattiert, hat freiwillig darauf verzichtet, mehr über die Muslime in Deutschland zu erfahren. Weil die eigene Statistikbehörde die Zahlen nicht kennt, hat die Regierung Umfragen in Auftrag gegeben. Die letzte grossangelegte Studie der Deutschen Islamkonferenz stammt aus dem Jahr 2020. Demnach lebten zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Muslime in Deutschland, von ihnen waren 82 Prozent stark oder eher gläubig. Was offenbleibt: Wie sich die Zahl der Muslime in den vergangenen Jahren entwickelt hat und wo Anhänger der verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen genau leben.
Fragt man nach dem Grund für dieses Versäumnis, bekommt man von den Verantwortlichen unterschiedliche Antworten: Das Statistische Bundesamt verweist auf das von der Bundesregierung beschlossene Zensusgesetz, das zuständige Bundesinnenministerium – damals CSU-geführt – wiederum auf die „methodische Einschätzung“ der Statistiker.
Tatsächlich hatte die Behörde das Glaubensbekenntnis beim Zensus 2011 noch als freiwillige Angabe erhoben. Laut Statistischem Bundesamt hat die Abfrage allerdings zu „keinen belastbaren Zahlen“ geführt. Die Behörde nennt noch weitere Gründe, die angeblich gegen eine Erhebung sprechen und die schon während der Corona-Pandemie dazu führten, dass die Regierung oft im Blindflug agierte: datenschutzrechtliche Bedenken.
Das verwundert, denn beispielsweise in der Schweiz sind solche Probleme unbekannt. Dort wird die allgemeine Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft – ob öffentlich-rechtlich oder nicht – in einer jährlichen Befragung erhoben. Ebenfalls freiwillig. Laut der Schweizer Statistikbehörde verweigert nur rund ein Prozent der Teilnehmer die Auskunft nach der Religionsgemeinschaft.
Mit den Ergebnissen kann die Schweiz – trotz kleinerer Stichprobe – ziemlich genaue Aussagen über die räumliche Verteilung der Gläubigen treffen sowie über ihren Anteil an der Bevölkerung im Zeitverlauf. Demnach schrumpft der Anteil der Christen seit Jahren, jener von Menschen ohne Religionszugehörigkeit steigt, der von Muslimen ebenfalls. Im Jahr 2022 betrug er knapp 6 Prozent.
Anders als der Schweizer Zensus-Fragebogen enthielt der deutsche im Jahr 2011 gleich zwei Fragen zur Religion. Statt dieses obskure zweistufige Verfahren zu ersetzen mit einer allgemeinen Frage nach der Religionsgemeinschaft, fragt die Statistikbehörde nun gar nicht mehr und nutzt für den Zensus ausschliesslich Daten aus den Melderegistern.
Mit der Realität im 21. Jahrhundert, in der ganze Stadtteile inzwischen muslimisch geprägt sind, haben diese Zahlen wenig zu tun. Sie zeigen ein Land, das es gar nicht mehr gibt. Womöglich ist das einigen deutschen Politikern sogar lieber. Systematisches Wegschauen hat beim Thema Islam in Deutschland schliesslich Tradition.
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