Das Thema Migration war bis 2019 das alles beherrschende Thema in Deutschland. Danach drängte erst die Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine sowie die Energiekrise das Flüchtlingsproblem in den Hintergrund.
Seit Monaten aber messen die Deutschen der Migration wieder mehr Bedeutung zu. Das hängt mit der steigenden Zahl der Flüchtlinge und Migranten zusammen. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres beantragten rund 88.000 Menschen in Deutschland Asyl. Im Jahr 2022 waren es im selben Zeitraum noch rund 48.000 Anträge. Hinzu kommen noch rund eine Million Ukrainer, die seit Beginn des Krieges eingereist sind und kein Asyl beantragen müssen. Die Lage in vielen Kommunen ist angespannt. Manche Kommunalpolitiker sagen sogar: noch schlimmer als 2015.
In Berlin wird vor allem über den Flüchtlingsgipfel gesprochen, der letzten Monat unter der Regie des Chefs selber stattfand, im Bundeskanzleramt. Allerdings bedeutet der Umstand, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit dabei war, noch nicht, dass die Kommunen mit mehr Geld rechnen können. Für dieses Jahr hat der Bund 2,75 Milliarden Euro für die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge zugesagt. Dazu kommen noch die Mittel für das Bürgergeld, auf das Ukrainer Anrecht haben.
SPD und FDP hegen den Verdacht, dass sich die Grünen mit dem Ruf nach mehr Geld um die heikle Frage der Begrenzung von Migration herumdrücken. Die kommunalen Spitzenverbände haben nämlich noch andere Forderungen auf ihrem Zettel, die mit Geld nichts zu tun haben. Dazu gehören die Ausweitung des Kreises sicherer Herkunftsländer, die Absenkung bestimmter Sozialleistungen, die konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber. Die Grünen erheben den genau umgekehrten Vorwurf: Dass SPD und FDP sich auf diese Themen fokussieren, diene doch nur dem Zweck, von der Finanzfrage abzulenken. Diese Debatte wiederum lenkt davon ab, dass es hier nicht um ein Entweder-oder geht. Das Geld hilft kurzfristig, alles andere höchstens mittel-, wenn nicht langfristig.
In puncto Begrenzung ist die europäische Ebene mindestens so wichtig wie die nationale. Aber deutsche Europaparlamentarier klagen, dass in den Berliner Diskursen oft so getan werde, als sei das Gemeinsame Europäische Asylsystem irgendein netter Zusatz. Dabei werde sich dadurch Entscheidendes ändern. Nancy Faeser hatte im März während eines Treffens mit fünf anderen europäischen Innenministern in Berlin den Druck erhöht: Der Schengenraum sei in Gefahr, wenn die EU-Mitgliedstaaten sich nicht bald auf gemeinsame Regeln zur Steuerung der Migration einigten.
Nun sagte Faeser, sie sehe ein „historisches Momentum“, um die EU-Asylreform abzuschließen. In Brüssel gilt sie als schwierigstes aller Themen, weil es am Ende um die Frage geht, ob die Staaten an der Außengrenze bereit sind, die hohen internationalen Standards einzuhalten – und die anderen sie im Notfall entlasten würden. Gerungen wird darum schon seit der Migrationskrise von 2015. Damals wurden zwar verbindliche Umverteilungsquoten beschlossen, doch sträubten sich Ungarn, Polen und die Tschechische Republik mit allen Mitteln dagegen. Umgesetzt wurde das Vorhaben nie. Seither sind viele Papiere über flexible Solidarität geschrieben worden, aber von einer Übereinkunft sind die Staaten weit entfernt, obwohl sie keinen Konsens benötigen. Für alle Gesetzesvorschläge, die die EU-Kommission im September 2020 präsentiert hat – den Pakt für Migration und Asyl –, reicht eine qualifizierte Mehrheit.
Um zu verstehen, warum die Innenministerin das Projekt gerade jetzt vorantreibt, muss man sich zwei Termine vor Augen führen: das Treffen der EU-Innenministerinnen und -Innenminister am 8. Juni dieses Jahres – und die Wahl des Europäischen Parlaments ziemlich genau ein Jahr später. Damit die GEAS-Reform zeitnah umgesetzt werden kann, muss sie im kommenden Jahr beschlossen werden – bevor das Parlament neu gewählt wird. Und ob das noch klappt, entscheidet sich bei dem Ratstreffen am 8. Juni. Spätestens dann müssten sich die Innenministerinnen und Innenminister einig werden.
Dieser Zeitdruck ist für die Reform nicht unbedingt ein Nachteil. Das „Jetzt oder nie“-Gefühl trägt wesentlich zu dem „Momentum“ bei, das Faeser beschworen hat. Wie das eben ist mit knappen Deadlines: Sie sind ein ziemlich effektiver Anreiz, um produktiv zu arbeiten. „Wenn das GEAS nicht kommt und damit eine verlässliche Registrierung und Erfassung an den Außengrenzen, dann ist der Schengen-Raum mit offenen Binnengrenzen in großer Gefahr“, sagte Nancy Faeser – und erhöhte damit abermals den Druck.
Dass sich die Koalition auf eine gemeinsame deutsche Verhandlungsposition geeinigt hat, ist nur eine kleine Bewegung im großen Ringen der Staaten. Reichlich spät war es zudem, wieder einmal. Vor allem Grüne und linke Sozialdemokraten Ausnahmen durchgedrückt. In der Sache haben sich die Koalitionspartner aber auf die Mechanik eingelassen, die sich die EU-Kommission ausgedacht hat. An den Außengrenzen sollen Asylverfahren schneller und wirksamer durchgezogen werden, indem das bisher nur an Flughäfen praktizierte Grenzverfahren zum Standard für Menschen aus Ländern mit geringer Schutzbedürftigkeit wird. Wer wenig Aussicht auf Asyl hat oder Dokumente fälscht, soll für zwölf Wochen inhaftiert werden, während der Antrag bearbeitet wird – damit der Bewerber nicht gleich abtaucht. Nach dem Vorschlag der Kommission soll in dieser Zeit das gesamte Verfahren abgeschlossen sein, einschließlich eines Rechtsbehelfs gegen eine Ablehnung.
Den Staaten an der Außengrenze ist jede Aufweichung recht. Sie fürchten vor allem, dass sie auf Zehntausenden abgelehnten Asylbewerbern sitzen bleiben, weil die Herkunftsländer sie nicht zurücknehmen. Deshalb wollen sie selbst entscheiden, ob sie das Grenzverfahren anwenden. So würden sie ein Ventil behalten, um sich – wie derzeit – dadurch zu entlasten, dass Migranten einfach weiterziehen. Das wiederum passt den Ländern im Westen und Norden Europas gar nicht, auch Berlin besteht auf einer Pflicht. Es will sogar die Fristen strecken, in denen die Ersteinreiseländer Menschen zurücknehmen müssen, die in Deutschland aufgegriffen werden. Dass die sich darauf einlassen, ist höchst unwahrscheinlich; nicht einmal die Kommission geht so weit.
Im Gegenzug bietet Deutschland an, dass es einen „fairen Anteil“ von Migranten übernimmt, wenn die Asylsysteme der Ersteinreiseländer überlastet sind. Allerdings soll die Sekundärmigration dabei berücksichtigt werden. Ein wichtiger Punkt, wie die gegenwärtige Lage zeigt. So haben sich zwar die Ankünfte in Italien über das Mittelmeer im ersten Quartal verdreifacht (gegenüber dem Vorjahreszeitraum), wodurch sich Rom überlastet fühlt. Doch solange die meisten Menschen nicht registriert werden und Deutschland im Verhältnis viel mehr Asylanträge als Italien verzeichnet, kann von einer „Drucksituation“ keine Rede sein. Außerdem besteht die Koalition darauf, dass sie nicht mehr Migranten aufnimmt als nach objektiven Kriterien erforderlich. Auch das ist heikel, bisher ist nur ein Dutzend der 27 Staaten überhaupt zu einer Übernahme bereit. Der freiwillige Solidaritätsmechanismus für Personen, die aus Seenot gerettet werden, sollte eine Art Testlauf sein. Von nur 8.000 zugesagten Plätzen wurden aber erst ein paar Hundert gefüllt.
Bis Juni sollen sich die Staaten auf eine Position einigen, danach Verhandlungen mit dem EU-Parlament beginnen – das ist zumindest der Plan der deutschen Regierung. Viele Diplomaten halten das für viel zu ehrgeizig. Dass in Spanien und Griechenland gerade Neuwahlen geplant werden, macht die Verhandlungen schwieriger. Trotzdem sagen viele, die sich mit dem Thema befassen: Es ist zwar sehr unsicher, ob die Reform gelingt, aber es ist wahrscheinlicher denn je.
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research and Study Center vorbehalten.