Mehr als zehn Jahre nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien und der darauffolgenden Fluchtbewegung nach Europa gewöhnt sich die deutsche Justiz an Prozesse, die Völkerstraftaten auf syrischem Boden zum Gegenstand haben. Im Januar 2022 endete vor dem Oberlandesgericht (OLG) Koblenz der erste Prozess weltweit zu syrischer Staatskriminalität. Verantworten mussten sich zwei ehemalige Mitarbeiter der Assad-Regierung. Der Haupttäter erhielt eine lebenslange Haftstrafe; das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das gleiche Strafmaß verhängte im Februar 2023 der 2. Strafsenat des Kammergerichts Berlin gegen ein Mitglied der bewaffneten Miliz „Free Palestine Movement“. Vor dem OLG Frankfurt wird seit zweieinhalb Jahren ein Verfahren gegen einen Arzt geführt, der in Militärkrankenhäusern inhaftierte Oppositionelle gefoltert haben soll. Und seit Mai muss sich ein weiteres mutmaßliches Mitglied einer Miliz vor dem OLG Hamburg verantworten.
Bevor die Bundesanwaltschaft Anklage in einer neuen Strafsache erhebt, erfolgen umfangreiche Ermittlungen, für die die Karlsruher Behörde gut aufgestellt ist: Bereits im September 2011 leitete sie für Syrien ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren ein. Im Rahmen eines solchen Verfahrens sichert und dokumentiert das Bundeskriminalamt Belege gegen unbekannte Täter wegen des Verdachts der Begehung von Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch, also insbesondere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Hinweise auf mögliche Täter und deren Vergehen kommen auch von Opfern selbst, die sich meist über Menschenrechtsorganisationen an die Bundesanwaltschaft wenden. Beobachtern der Frankfurter Verhandlung vermittelt sich der Eindruck, dass Bundesanwaltschaft und BKA sehr gründlich vorgehen.
Doch warum können Deutschland und andere Staaten solche Taten überhaupt verfolgen? Die Antwort lässt sich auf einen Begriff herunterbrechen: das Weltrechtsprinzip. Den Staaten, die sich zu ihm bekennen, ermöglicht es, Völkerstraftaten zu verfolgen, auch wenn sie nicht auf ihrem Hoheitsgebiet, nicht gegen einen ihrer Staatsbürger und auch nicht von einem ihrer Staatsbürger begangen wurden. Ohne das Weltrechtsprinzip könnten sich jene, die in ihrer Heimat Menschenrechtsverletzungen begangen haben, im Ausland generell in Sicherheit vor Verfolgung wiegen. Dass die juristische Aufarbeitung von systematisiertem Mord, Totschlag und staatlich angeordneter Folter durch Gerichte in Drittstaaten wie Deutschland aber auch Frankreich, Schweden, den Niederlanden und den USA im Regierungspalast in Damaskus aufmerksam verfolgt wird, zeigen die Versuche, Einfluss auf das Aussageverhalten von Belastungszeugen zu nehmen. Schon im Koblenzer Prozess berichteten Zeugen von Einschüchterungen, denen sie selbst oder Verwandte ausgesetzt waren. Noch in Syrien lebenden Familienangehörigen statteten Geheimdienstmitarbeiter einen Besuch zu Hause ab und legten nahe, der Zeuge solle seine Worte wohl wägen.
Auch im neuen Prozess in Frankfurt hat der Richter des Staatsschutzsenats nach mittlerweile fast 140 Verhandlungstagen Routine darin, stockende und unvollständige Schilderungen nicht alleinig auf schlechtes Erinnerungsvermögen zurückzuführen. Immer wieder spricht er den Menschen dann Mut zu. Immer wieder appelliert er aber auch an Zeugen, zu einer Aufklärung von Strukturen und Verantwortlichkeiten beizutragen. Vor Kurzem sagte er zu einem Arzt, der gemeinsam mit dem Angeklagten in dem berüchtigten Militärkrankenhaus Al-Mezzeh gearbeitet hatte: „Ich meine, man ist es den Opfern schuldig, im Nachhinein davon zu berichten, was passiert ist.“
Für die Zeugen, die vor Gericht von dem Leid berichten müssen, das ihnen angetan wurde, ist das regelmäßig eine große Herausforderung. Ein Nebenkläger berichtet, dass die Aussage vor Gericht mitunter sehr belastend sei. „Es ist ihnen aber wichtig, auszusagen und gehört zu werden“. Neben dem Wunsch nach Anerkennung des eigenen Leids verspürten seine Mandanten auch eine mittelbare Verpflichtung gegenüber den Ermordeten, Verschwundenen und Gefolterten. Da in Syrien weiterhin Menschenrechte systematisch missachtet und verletzt würden und bis heute keine Änderung der Situation dort eingetreten sei, sieht er die Diskussion über eine Abschiebung von Flüchtlingen in das Land kritisch.
Die syrische Diaspora schwankt indessen in ihrer Meinung über die bisherigen Ergebnisse der Prozesse. Die ECCHR, eine Menschenrechts-NGO mit Sitz in Berlin und einer der Nebenklagevertreter im Koblenzer Prozess, weiß aus vielen Gesprächen, dass die juristische Aufarbeitung grundsätzlich sehr begrüßt und als bedeutend wahrgenommen wird. Es gebe jedoch auch viele Stimmen, die meinten, es habe bisher nicht die richtigen Leute getroffen. „Die ersten Prozesse leisten einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung“, sagt sie. „In diesen Verfahren ist es juristisch notwendig, sich den Kontext anzuschauen. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist das der weitverbreitete und systematische Angriff gegen eine Zivilbevölkerung, also ein wahnsinnig dickes Brett. Dadurch geschieht über den Einzelfall hinaus ganz viel Aufarbeitung. Ein Stück weit nehmen diese Prozesse das gesamte Ausmaß dieser Staatskriminalität in den Blick.“ Auf den Erkenntnissen aus den Prozessen könne künftig aufgebaut werden, auch in fernerer Zukunft und an anderen Orten. Tatsächlich haben die Erkenntnisse bereits maßgeblich zur Fortentwicklung des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs beigetragen, das dieses Jahr beschlossen wurde. So wurden Opferrechte gestärkt und Strafbarkeitslücken geschlossen, insbesondere im Hinblick auf sexualisierte Gewalt. Gleichzeitig sei es offensichtlich, dass die Individuen, die bislang in Deutschland angeklagt wurden, keine Entscheidungsträger des Systems waren. Die Verurteilten des Koblenzer und des Berliner Prozesses lebten als anerkannte Flüchtlinge in Deutschland; teilweise wurden sie per Zufall erkannt. Verhandlungen wie die im Mai in Paris, in der drei ranghohe Militärs, die dem inner circle von Staatspräsident Baschar al-Assad zuzurechnen sind, in Abwesenheit wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen wurden, kann es hierzulande nicht geben. Sogenannte In-absentia-Verfahren kennt die deutsche Strafprozessordnung nicht. Ein Teil der syrischen Gemeinschaft steht ihnen aber auch skeptisch gegenüber, da die Verurteilten weiterhin auf freiem Fuß sind.
Die Debatte darüber, wer zur Rechenschaft gezogen werden sollte und wer nicht – gerade wurde in Stockholm ein Angeklagter aus Mangel an Beweisen freigesprochen – empfinden Experten als notwendig, damit die Syrer einen Umgang mit der Vergangenheit ihres Landes finden können. Ob sich Assad jemals einem Strafgericht wird stellen müssen, ist fraglich. Zwar wären mehrere Wege der Verfolgung möglich, sind momentan jedoch nicht realistisch. Frankreich hat beispielsweise einen Haftbefehl gegen den Diktator erlassen. Ob dieser jedoch aufrechterhalten wird, ist noch nicht abschließend geklärt, da amtierende Staatsoberhäupter durch das Prinzip der personellen Immunität vor Strafverfolgung geschützt sind. Sollte Assad nicht mehr Präsident Syriens sein, könnte ihm in Frankreich jedoch der Prozess gemacht werden.
Eine andere Variante wäre: Obwohl Syrien die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht anerkennt, könnte der UN-Sicherheitsrat den „Fall Syrien“ grundsätzlich an den Internationalen Gerichtshof überweisen. Dafür bräuchte der Rat jedoch die Zustimmung aller ständigen Mitglieder, auch die von China und Russland. 2014 gab es einen solchen Versuch der Überweisung zuletzt. Damals legten beide Länder ihr Veto ein. Seitdem wurde kein weiterer Versuch unternommen. Die Prozesse in Deutschland und darüber hinaus stellen somit momentan die einzige Möglichkeit dar, über die Wahrheitsfindung in individuellen Verfahren auch zur allgemeinen Aufdeckung von Gräueltaten in Syrien beizutragen.
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