Seit dem Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf Israel, bei dem mehr als 1.400 Menschen getötet wurden, sind mindestens drei Bruchlinien in der EU offenkundig geworden. Die erste Bruchlinie befindet sich an der Spitze der Union. Das seit Langem angespannte Verhältnis zwischen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der einen Seite und Ratspräsident Charles Michel sowie dem Außenbeauftragten Josep Borrell auf der anderen scheint inzwischen irreparabel zerrüttet zu sein.
Die Gegensätze beziehen sich in ihrer Konsequenz nicht auf den aktuellen Konflikt, sondern es ist ein grundsätzliches Problem, welches seit der Gründung der EU nie wirklich gelöst wurde. Es ist die Frage nach der außenpolitischen Kompetenz innerhalb der EU und wer für die Gremien sprechen darf und kann. Aber es gibt auch innerhalb der Kommission und Rat grundsätzliche politische Ansichten. Von der Leyen hat sich im Namen der gesamten EU klar hinter Israel gestellt und betont das Recht des überfallenen Landes auf Selbstverteidigung. Michel und Borrell dagegen ermahnen Israel, sich ans humanitäre Völkerrecht zu halten und bei Gegenschlägen in Gaza nicht die palästinensische Zivilbevölkerung zu treffen.
Und dann sind da noch die EU-Mitgliedstaaten: Uneinigkeit bei der Findung einer gemeinsamen EU-Position in außenpolitischen Fragen prägt Brüssel seit Jahrzehnten. Das ist seit Jahrzehnten so, wird aber immer wieder auf „Remote Modus“ gestellt, wenn es gerade keine geopolitische Krise zu meistern gilt. Im Fall der russischen Invasion der Ukraine wurde ein Gegensatz nur partiell wahrgenommen, besonders im Fall des Mitglieds Ukraine.
Anders verhält es sich nun betreffend des neu aufgeflammten Konflikts im Nahen Osten. Dieser spaltet die Europäer so wie kein anderer, und das schon sein Jahrzehnten. Staaten wie Spanien, Irland, die nordischen und die Benelux-Länder haben deutlich mehr Sympathien für die Palästinenser als etwa Deutschland, die Niederlande oder Österreich. Mit der Eskalation der Gewalt im Nahen Osten ist auch dieser Gegensatz zwischen dem propalästinensischen und dem proisraelischen Lager in Europa wieder voll aufgebrochen.
Der letzte Gegensatz verläuft zwischen einzelnen Mitgliedstaaten und dem EU-Spitzenpersonal in Brüssel. So wurde von der Leyen wegen ihrer eigenmächtigen Solidaritätserklärung für Israel in manchen europäischen Hauptstädten scharf kritisiert. Einige Diplomaten sagten sogar, die Kommissionspräsidentin habe dadurch ihre Chance für eine zweite Amtszeit beschädigt. Vertreter anderer Regierungen lassen dagegen kaum ein gutes Haar an Michel und Borrell. Der Außenbeauftragte verbreite Positionen, die nicht dem Konsens der 27 EU-Länder entsprächen, sagen Diplomaten. Dass Borrell vor zwei Wochen zur ersten Videokonferenz der EU-Außenminister nach dem Angriff der Hamas nicht nur den israelischen Kollegen einlud, sondern auch den palästinensischen, damit dieser seine Sicht auf die Lage erklären könne, löste in Brüssel ungläubiges Kopfschütteln aus.
Ein Beispiel für die Unfähigkeit Brüssels zeigt sich aktuell in den Bemühungen der EU, Einfluss auf die Konfliktparteien zu nehmen. Borrell sagte bei einem Ministertreffen, dass er eine „humanitäre Pause“ befürworte. Diese Forderung war nicht unumstritten, denn gemeint war damit de facto eine Waffenruhe – ohne diesen Begriff zu benutzen -, damit die Zivilbevölkerung in Gaza von Ägypten aus mit humanitären Hilfsgütern versorgt werden kann. In der Praxis müsste dazu Israel seine Militäraktionen gegen die Hamas unterbrechen. Zugleich kursierte in Brüssel ein Entwurf für die Abschlusserklärung des letzten EU-Gipfels. Die EU schließe sich der Forderung nach einer „humanitären Pause“ an, hieß es in dem Dokument. Ein expliziter Verweis auf Israels Recht auf Selbstverteidigung fehlte hingegen. Der Entwurf stammte aus dem Büro von Michel, der anders als von der Leyen seit der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober noch nicht persönlich mit Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu gesprochen hat. Um zur offiziellen politischen Linie der EU zu werden, musste die Formulierung beim Gipfel von allen 27 Staats- und Regierungschefs gebilligt werden.
Die Forderung nach einer Waffenruhe, die auch die Vereinten Nationen sowie arabische Staaten erheben, wird von einigen EU-Ländern mitgetragen, darunter Spanien, Irland und Frankreich. Der irische Außenminister Micheál Martin sagte: „Das Leid unschuldiger Zivilisten, insbesondere von Kindern, hat ein Ausmaß erreicht, das eine sofortige Einstellung“ der Kämpfe erfordere.
Andere EU-Staaten, zu denen Deutschland und Österreich gehören, sind allerdings dagegen, eine Waffenruhe zu fordern – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, solange die Hamas noch Raketen auf Israel schießt, verschleppte Zivilisten als Geiseln hält und das israelische Militär gerade erst mit seiner Gegenoffensive begonnen hat. Man müsse „vorsichtig sein, was wir fordern“, sagte der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg beim Treffen der Außenminister. Zunächst habe Israel das Recht, sich zu verteidigen. Zudem müsse die Hamas alle Geiseln sofort bedingungslos freilassen. Auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock stellte klar, dass es im Moment nicht um eine Waffenruhe gehen könne, sondern die „Bekämpfung des Terrorismus essenziell“ sei. „Es wird nur Frieden und Sicherheit für Israel und die Palästinenserinnen und Palästinenser geben, wenn der Terrorismus bekämpft wird“, sagte sie. Zugleich müsse der palästinensischen Zivilbevölkerung humanitär geholfen werden. Beides zu tun, sei zwar die „Quadratur des Kreises“, so Baerbock. Aber die müsse Europa jetzt schaffen. Borrell sagte nach dem Treffen, es habe unter den 27 Ministerinnen und Minister einen „Konsens“ gegeben, dass eine humanitäre Waffenruhe notwendig sei. Das war allerdings nach Angaben von Diplomaten keine korrekte Darstellung des Meinungsbilds unter den EU-Regierungen, sondern – typisch Borrell – seine etwas freie Interpretation der Lage. Es habe zwar eine Debatte zu der Frage einer Feuerpause gegeben, so ein Diplomat, aber etliche Staaten seien im Moment durchaus noch dagegen, dass die EU diese fordern sollte.
Insofern ist unklar, ob alle EU-Länder sich langfristig darauf einigen können, von Israel eine militärische Pause zu verlangen. Viele Regierungsvertreter und Diplomaten sind eher skeptisch. Dafür, so heißt es, sei es vielleicht einfach zu früh.
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