Der Migrationsdruck auf bestimmte Länder innerhalb der EU wird immer größer. Allein in Deutschland stellten im vergangenen Jahr 244.132 Personen einen Asylantrag – ein Plus von 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr und der höchste Wert seit dem Rekordjahr 2016. In Österreich ist die Lage ebenso dramatisch: Die Zahl der Asylanträge hat sich im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr nahezu verdreifacht. In den Gemeinden kommt es immer wieder zu Protestaktionen gegen neue Flüchtlingsunterkünfte – und die rechtspopulistische FPÖ ist laut Umfragen mittlerweile stärkste Partei im Land. Kommunen suchen mittlerweile verzweifelt Unterkünfte, in einigen Gemeinden in Österreich mussten Flüchtlinge mitten im Winter in provisorischen Zelten untergebracht werden. Regierungen werden nun von ihren Kommunen und Städten aufgefordert, eine „realitätsbezogene Flüchtlingspolitik“ mit allen Beteiligten zu realisieren, in Deutschland wird ein Flüchtlingsgipfel unter Leitung des Kanzlers gefordert.
Die Migrationskrise ist zurück, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in den Rekordjahren 2015 und 2016. Im vergangenen Jahr registrierte die EU 330.000 illegale Grenzübertritte. Fast eine Million Asylanträge wurden gestellt. Die Mitgliedsländer sind in der Frage seit Jahren heillos zerstritten und können sich nicht auf neue EU-Regelungen einigen, wie Migranten am besten von einer Flucht abgehalten werden und Schutzsuchende innerhalb der EU verteilt werden können. Auch bleibt die Frage unbeantwortet, wie illegale Migranten trotz eines Abschiebebescheids einfach in Europa bleiben können, denn von 340.000 Entscheidungen in der EU wurde im Jahr 2021 nur jede fünfte umgesetzt. Zwei Jahre zuvor waren es noch 29 Prozent.
Die deutsche Position einer liberalen Handhabung der EU-weiten Migrationsregelung gilt nicht nur beim Außengrenzschutz, sondern auch für den sogenannten Visahebel. Hier Visahebel handelt sich es sich um eine Art Daumenschraube für Herkunftsstaaten, die 2019 eingeführt wurde. Danach können die Innenminister der Mitgliedstaaten auf Vorschlag der EU-Kommission beschließen, die Visabedingungen für das betreffende Drittland zu erschweren – beispielsweise durch höhere Visagebühren, Verlängerung der Bearbeitungszeit oder Verkürzung der Gültigkeitsdauer – falls es bei der Rückübernahme von illegalen Migranten nicht kooperiert. Dies wird von der deutschen Regierung bislang nicht mitgetragen, im Gegensatz zu Ländern wie Schweden, Dänemark, Österreich, Italien oder den Niederlanden.
Die deutsche Seite setzt stärker auf Anreize statt auf Druck. Ihr Credo lautet: Wer will, dass Herkunftsländer Migranten wieder zurücknehmen, muss diesen Ländern auch ausreichend faire Angebote für legale Migration machen. Dieser Ansatz klingt zunächst human, aus Sicht der Herkunftsländer ist er aber durchaus zweischneidig: Denn Chancen auf legale Migration in die EU haben meistens nur gut ausgebildete Menschen, die aber wiederum dringend in ihrer Heimat beim Aufbau des Landes benötigt werden.
Zusätzlich sollen Finanzmittel eingesetzt werden, damit die Heimatländer möglichst zügig sogenannte Rückführungsabkommen abschließen. Es ist eine Politik aus „Zuckerbrot und Peitsche“. Das Konzept lautet: Ist ein Land bereit, ein Rückführungsabkommen zu vereinbaren und seine geflüchteten Staatsangehörigen zurückzunehmen, soll es durch Extra-Zahlungen belohnt werden. Weigert sich das Drittland, so können die Visabedingungen erschwert werden. Laut Experten wird dieses System sich nicht bewähren können. Seit 2004 konnte die EU-Kommission nur mit 19 Staaten rechtlich verbindliche Rückführungsabkommen abschließen, zuletzt 2020 mit Belarus. Wichtige Länder wie Tunesien, Ägypten oder Marokko lehnen bislang eine solche Kooperation mit den EU-Staaten ab.
Wie kann es die Europäische Union schaffen, einerseits Verfolgten Schutz zu bieten, andererseits irreguläre Migration zu begrenzen – und darüber hinaus noch Flüchtlinge halbwegs gerecht auf die Mitgliedstaaten zu verteilen? Der Druck wird immer größer, einerseits bei den Menschen in der EU, die die Flüchtlingspolitik nicht mehr mittragen wollen und zu rechtspopulistischen Parteien abwandern, bei den Kommunen in der EU, die sich bei den Kosten für die Unterbringung der Migranten allein gelassen fühlen. Ebenso stehen nächstes Jahr EU-Wahlen an, bis dahin will Brüssel ein stimmiges Konzept vorlegen. „Seit sieben Jahren wird nun über die Neugestaltung des Migrationssystems geredet. Wenn eine Einigung auf die von der EU-Kommission geplante Reform des EU-Asylsystems im laufenden Jahr „scheitert, wird es so schnell keinen neuen Versuch geben“, sagt der Asyljurist Thym. Der Einwand, dass der Status quo besser sei als eine schlechte Reform, ist dabei nicht haltbar: Falls die Reform scheitere, werde die „Erosion“ der EU-Regeln zum Flüchtlingsschutz „voranschreiten“. Bereits jetzt missachten Staaten wie Griechenland oder Polen an ihren Grenzen das System, und auch Italien blockiere jede Zurücknahme von Migranten über das Dublin-System. Nach dieser Vereinbarung ist jener EU-Staat, den ein Flüchtling zuerst betritt, auch für das Asylverfahren verantwortlich.
Die EU-Kommission will im Wesentlichen den Status Quo fortsetzen, dass die Zuständigkeit übergeht, wenn die Überstellung in den Erstaufnahmestaat binnen sechs Monaten scheitert. Konkret heißt es, dass ein EU-Land ganz offiziell für eine Person zuständig wird, die irregulär einreist, während in Italien noch ein Asylverfahren läuft, soweit eine Überstellung nicht binnen sechs Monaten vollzogen wird – was in der Praxis die Regel ist.
Der Migrationssoziologe Ruud Koopmanns fordert in einem Gespräch mit MENA Research Center eine tiefgreifende Änderung der EU-Asylpolitik. Ihm geht es „nicht darum, das individuelle Asylrecht abzuschaffen“, sondern lediglich um eine Einschränkung des Rechts, „den Asylantrag in Europa zu stellen“. Er setzt sich dafür ein, irreguläre Fluchtmigration durch reguläre Migration zu ersetzen, denn ohne eine wirkungsvolle Einschränkung der irregulären Asylmigration kann man sich alle Gedanken über großzügige Aufnahmekontingente und humanitäre Visa sparen. Für den Wissenschaftler und Buchautoren ändert die geplante EU-Asylreform nichts an dem grundlegenden Problem, „dass jeder, der sich an einer europäischen See- oder Landgrenze meldet, das Recht hat, in Europa einen Asylantrag zu stellen, und es auch nach einer Ablehnung nahezu unmöglich ist, Menschen in Transit- oder Herkunftsstaaten zurückzuführen.“ Nur die Verlagerung von Asylverfahren in Länder außerhalb der EU kann laut Koopmans zu einer „substanziellen Reduzierung der irregulären Migration“ führen.
Australien hat es durch eine ähnliche Politik geschafft, das Sterben auf den Seewegen zu dem Kontinent vollständig zu beenden, gleichzeitig gehört es aber zu den Ländern, die weltweit die meisten Flüchtlinge über humanitäre Kontingente aufnehmen. Das Ziel müsse laut Koopmanns sein, potenziellen irregulären Einwandern nach Europa klarzumachen, dass sie Schutz nach internationalem Recht erhalten können, wenn sie die Voraussetzungen dafür erfüllen. Aber eben nicht in den ersehnten Zielländern Nordwesteuropas, sondern in einem Drittstaat.
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