Eine gemeinsame Asylpolitik in der EU ist weiterhin die größte politische Hürde in Brüssel. Nachdem die Mitgliedstaaten 2022 verhältnismäßig gute Fortschritte gemacht hatten, beginnt das neue Jahr mit einem Rückschlag. Verantwortlich dafür sind nicht etwa die üblichen Verdächtigen wie Italien mit seiner postfaschistischen Regierung oder das Ungarn des Viktor Orban, sondern ein Land in Skandinavien, das seit dem Jahreswechsel die EU-Ratspräsidentschaft für die kommenden sechs Monate innehat.
Ausgerechnet von Schweden, das lange für die liberalste Migrationspolitik Europas stand, ist wenig Enthusiasmus im Bereich der gemeinsamen Migrationspolitik zu erwarten. Im September wurde die sozialdemokratische Minderheitsregierung aus dem Amt geworfen von einem rechts-konservativen Bündnis, das von den rechtsnationalen Schwedendemokraten (SD) geduldet wird.
Obwohl sie nicht Teil der neuen Regierung sind, haben die Rechten mit ihrem starken Ergebnis von 20 Prozent den Regierungswechsel erst ermöglicht – und damit auch den neuen moderaten Ministerpräsidenten Ulf Kristersson. Die Rolle als Königsmacher – sie tolerieren die Regierung im Parlament – lassen sich die Schwedendemokraten mit einem großen Einfluss besonders auf die Asyl- und Migrationspolitik bezahlen, auch mit konkreten Auswirkungen auf die Europäische Union.
Die EU-Kommission scheint sich nun bereit erklärt zu haben, diesen neuen Kurs zumindest teilweise mitzugehen. Dies liegt, neben der populistischen Haltung aus Stockholm, auch an den aktuellen Statistiken: Die Zahl der irregulären Einreisen ist im vergangenen Jahr bis Ende November auf 308.000 angestiegen – ein Plus von 68 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Gleichzeitig gibt es viel zu wenige Rückführungen illegaler Migranten in ihre Heimatländer, laut vorläufigen Zahlen wurde im Jahr 2022 mit nur 23.3 Prozent weniger als jeder vierte ausreisepflichtige Asylbewerber wieder abgeschoben, 2021 waren es 24 Prozent. Die Debatte über eine effektive und solidarische Asylpolitik beschäftigt die EU schon seit Jahren, doch angesichts steigender Flüchtlingszahlen wächst in Brüssel der Druck, eine gemeinsame Lösung des Problems zu finden. So erreichten allein im vergangenen Jahr laut UNO-Flüchtlingshilfe 150.177 Flüchtlinge und Migranten die Küsten Europas – zwar Jahre zuvor waren es weniger als 100.000.
Brüssel will jetzt gegensteuern: Der Fokus soll in diesem Jahr stärker als in den Vorjahren auf Abschiebungen von Migranten liegen, die keinen Asylanspruch haben. Dazu will die EU-Kommission die Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsstaaten weiter verbessern. „Ich erwarte, dass wir bis Ende 2023 mit Blick auf die Rückführungen das Ruder herumgerissen haben werden. Das hängt natürlich von den Mitgliedstaaten ab, genauso wie von der EU. Wir müssen politische Entschlossenheit mit den Verwaltungskapazitäten zusammenfügen“, sagte die zuständige EU-Innenkommissarin.
Sie weiß, dass Gesetze allein, wie die EU-Rückführungsrichtlinie aus dem Jahr 2009 – die ein faires Verfahren garantieren soll, aber auch Abschiebehaft und Wiedereinreiseverbote vorsieht – das Problem nicht lösen können. Sie verspricht zudem, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex „ihre Unterstützung für Rückführungsoperationen wesentlich verstärken wird“. Aber die eigentlichen Ursachen für die niedrigen Abschiebungsquoten liegen tiefer.
So weichen die Rückführungsquoten zwischen einzelnen EU-Ländern teilweise stark voneinander ab. Der Grund dafür ist, dass in Ländern mit niedrigen Werten wie Tschechien, Italien oder Frankreich, offenbar der politische Wille fehlt, illegale Migranten auch tatkräftig abzuschieben. Hinzu kommt, dass Abschiebungen für Gerichte und Polizei häufig sehr aufwendig sind. In den meisten Mitgliedstaaten sind die Justizbehörden stark überlastet, was auch immer wieder zu Verzögerungen bei Abschiebungen führt.
Ein weiteres großes Streitthema in Brüssel ist der Verteilungsschlüssel von Flüchtlingen. Die Mittelmeerländer sind nicht länger bereit, alle Neuankömmlinge aus Drittstaaten zu versorgen und zu registrieren, wozu sie eigentlich verpflichtet sind. Die sogenannten Dublin-Regeln, nach denen der Staat der ersten Einreise zuständig ist, funktionieren nicht. Viele Migranten ziehen daher in nördliche Länder weiter, etwa nach Deutschland. Die deutsche Regierung macht sich daher stark, ein EU-Programm zur freiwilligen Verteilung von Asylsuchenden auf den Weg zu bringen. Ein Grund für niedrige Rückführungsquoten ist auch die mangelnde Bereitschaft von Herkunftsstaaten oder Transitländern, illegale Migranten wieder zurückzunehmen. Bisher hat die EU-Kommission mit 18 Drittstaaten verbindliche und mit sechs Ländern rechtlich unverbindliche Rückführungsabkommen ausgehandelt. Das ist zu wenig, es fehlen dabei auch wichtige Länder wie Tunesien, Marokko oder Ägypten, die sich strikt weigern, die Flüchtlinge wieder zu reintegrieren.
Bis zur Wahl im September konnte Brüssel noch hoffen, dass unter der schwedischen Ratspräsidentschaft Fortschritte gemacht werden könnten. Denn die für Migration zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson ist eine schwedische Sozialdemokratin. Diese Hoffnungen haben sich mit der neuen Mitte-Rechts-Regierung, die auf die Unterstützung der einwanderungsfeindlichen Schwedendemokraten angewiesen ist, allerdings zerschlagen.
Dass sich der große Einfluss der Schwedendemokraten auf das Verhältnis zur EU auswirken könnte, bereitet vielen in Brüssel Sorge. Die Partei steht der Staatengemeinschaft extrem kritisch gegenüber, erst im Jahr 2019 gaben sie ihre Idee eines „Swexit“ wegen fehlender öffentlicher Unterstützung auf. Die Vorsitzende der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament, Iratxe García Pérez, äußerte sich besorgt über den „negativen Einfluss der rechtsextremen Schwedendemokraten“ auf die sechsmonatige EU-Präsidentschaft. Bei der Vorstellung der schwedischen Ratspräsidentschaft versuchte Premier Kristersson solche Befürchtungen zu zerstreuen, er betonte, wie wichtig es sei, nationale Interessen zurückzustellen, um das Wohl der EU als Ganzes in den Vordergrund zu stellen. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um die große schwedische Flagge zu schwenken“, sagte er. Die Frage der EU-Migrationspolitik gehöre ohnehin nicht zu den Prioritäten der schwedischen Ratspräsidentschaft, sagte Kristersson kürzlich in einer Rede vor dem Riksdag.
Der schwedische EU-Botschafter versuchte ebenfalls das Problem kleinzureden und sagte, dass die Agenda der Rechtspopulisten Schwedens „Führung der EU nicht entgleisen oder bestimmen wird.“ Es gebe wahrscheinlich Tabuthemen für die Schwedendemokraten, doch seine Anweisungen nehme er „von der Regierung entgegen“. Dass die EU sich in diesem Halbjahr auf eine funktionierende gemeinsame Migrationspolitik einigt, gilt als unrealistisch. Doch die Diskussionen darüber haben begonnen, und die Schweden haben klare Vorstellungen dazu, vor allem was die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern angeht: Die EU belohne die Kooperation, setze aber zu wenig auf Zwang, sagte der EU-Botschafter aus Stockholm kürzlich in Brüssel. Wörtlich sprach er von „carrots and sticks“, von „Zuckerbrot und Peitsche“. Die Schweden wollen anderen Ländern also verstärkt drohen und damit Kooperation bei Migrationsfragen erreichen. Als Druckmittel nannte der schwedische Emissär die Bedingungen für die Visavergabe und Handelserleichterungen, die für Entwicklungsländer Ausfuhren in die EU vereinfachen. Wenn diese Handelserleichterungen wegfallen, kann das für die betroffenen Länder einen ökonomischen Rückschlag bedeuten. Erreicht werden soll damit, dass mehr Länder die Ausreise Richtung EU verhindern und bei Abschiebungen kooperieren.
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