»Cemaats« – Islamisch-Sufi-Gemeinschaften – sind Unterorganisationen und Überbleibsel der einst mächtigen Bruderschaften des Osmanischen Reiches. Über fünf Jahrhunderte lang wurden sie in der Nähe des Sultans mit der Atatürk-Kulturrevolution enteignet und verboten und ihre Scheichs hingerichtet. Aber die Orden und Cemaats waren fest verwurzelt. Vor allem in der ländlichen Bevölkerung fanden Führer wie Scheich Said Nursi (1877-1960), Gründer der Nurcu-(Licht-)Bewegung, oder sein Schüler Fethullah Gülen (*1941) Anhänger, die den streng konservativen Weg auf die Nachahmung des Propheten ausrichteten und die Ausbildung für die nächste Generation fort führten.
Vor allem ab den 1980er Jahren eroberten sie als „Kulturvereine“ wieder ihren Platz in Politik und Öffentlichkeit. Laut einer 2018 veröffentlichten Studie der Erziehungswissenschaftlerin Esergül Balci sind heute in der Türkei 30 Bruderschaften mit 400 Unterorganisationen aktiv. Seit der Arbeitsmigration der 1970er Jahre haben auch zahlreiche – von der Öffentlichkeit wenig beachtete – Zentren und Kulturvereine Ableger in der deutschen Vereinslandschaft gegründet. Ende der 1990er Jahre identifizierten Wissenschaftler in einer Studie 17 verschiedene Cemaats in Deutschland. Gemeinsam ist ihnen ein konservativer, manchmal revolutionärer Islam wichtig, eine strikte Geschlechtertrennung, sektenartige interne Strukturen und die Verehrung ihrer jeweiligen Köpfe als Erneuerer des Islam oder Endzeiterlöser.
Während die meisten Cemaats – darunter auch die Süleyman-Hilmi-Tunahan-Gemeinde mit ihrem Verband Islamischer Kulturzentren – in Deutschland Moscheen und religiöse Wohnheime gründeten, baute Gülen mit viel Geduld eine Art religiösen Markt auf, um die „goldene Generation“ für die Welt und die Bildung der Zukunft: Konzerne aus vielen Industriezweigen, Akademiker, Journalisten und Juristen schlossen sich ihm an und bauten innerhalb von 40 Jahren Unternehmen und insgesamt 1000 Schulen in Asien, Europa, Afrika und Amerika auf. Vor 2016 soll die Bewegung allein in der Türkei sieben Millionen Anhänger gehabt haben, weltweit zehn Millionen.
Auch Murat, ein junger Deutscher mit türkischen Wurzeln, soll Teil der „goldenen Generation“ werden. Seine Beobachtungen zeigen eine abgeschottete Welt mitten in Deutschland, die nicht dem Hochglanzbild entspricht, das bei Dialogdinnern und Preisverleihungen präsentiert wird. Er erlebte Druck, Mobbing und interne Kontrolle, Machtmissbrauch und Personenkult. Auch heute, sagt er, vergeht kein Tag, an dem er nicht nüchtern an die Enttäuschungen und emotionalen Belastungen dieser Zeit denke.
Zuerst ging er zur Nachhilfe ins Haus des Lichts. Die Großeltern, bei denen er aufgewachsen ist, fanden es gut. Bildung war wichtig, und die „Abis“ (große Brüder) sorgten für eine moralisch aufrechte Haltung in einer muslimischen Umgebung. Die Anrede Abi und Abla (große Schwester) stehen im Türkischen für Respekt, Anerkennung und – vor allem im religiösen Kontext – Gehorsam gegenüber der Autorität älterer Menschen.
Die Abis forderten ihn auf, Aufzeichnungen über die täglichen Gebete, die Fastentage, das Lesen des Korans und die Gülen-Predigten zu führen, die er gehört hatte. Außerdem musste er am Abonnementverkauf der Zeitung »Zaman«, dem Sprachrohr der Bewegung, teilnehmen. Muslim zu sein gehört zu seiner Identität, doch der Personenkult um Gülen kam ihm schon lächerlich vor. „Wir haben uns seine Predigtvideos angeschaut. Wenn er sich beugte, sagte der Abi, sei es ein Beweis dafür, dass der Prophet in ihn eindrang und er in direktem Kontakt mit dem Propheten stand“, erinnert er sich. Auch die Schlafentzugsverfügung kaufte er dem Abi in seiner WG nicht ab. Sie sollten nur vier Stunden schlafen, um mehr Zeit für „Hizmet“ und den Abo-Verkauf zu haben. „Hizmet“ bedeutet Dienst und ist der Name der Gülen-Bewegung. Gülen lebt seit 1999 nicht mehr in der Türkei. Er floh vor der türkischen Justiz in die USA, die ihm Unterwanderung und den geplanten Staatssturz vorwarf. Dort gründete er die „Golden Generation Foundation“. Er lebt mit seinen engsten Gefährten und einer unterschiedlichen Anzahl von Schülern auf einem Gelände namens Golden Generation Camp in Saylorsborough, Pennsylvania.
„Wir haben die Kinder und Familien ausgenutzt, auch finanziell“, sagt ein Follower in Deutschland und ist erstaunt über die Unterstützung, die die Bewegung heute in Deutschland genießt. „Die Geschlechtertrennung in der Cemaat ist extrem. Wir hatten nie Kontakt zu Frauen, uns wurde gesagt, dass sie an allem Schlimmen schuld seien, zum Beispiel an unseren Albträumen. Dafür gab es morgens extra Gebete“, berichtet er. Er war sechs Jahre für die Bewegung im Rheinland aktiv, ging dann 2006 in die Türkei, wo er jetzt promoviert.
Als er 16 Jahre alt war, begann er heimlich mit der Tochter eines Autohändlers auszugehen und brach mehrere Verbote mit der Beziehung. Die strikte Geschlechtertrennung war das eine. Ihr Vater war aber auch der wichtigste Förderer der Bewegung in der Region. Murat wurde überwacht, belästigt und sogar Familie und Freunde ausspioniert, bis herausgefunden wurde, wer das Mädchen war. Die Abis zwangen ihn, sich zu trennen, sogar in eine andere Stadt zu ziehen. „Es war sehr schlimm. Ich hatte ihnen vertraut, seit ich 13 war, und dann griffen sie mich an. Einer der Abis wollte mich sogar verprügeln, aber ich habe mich gewehrt.“ Das Mädchen sei in die Türkei gebracht worden, sagt er.
In der Bewegung sind Ehen meist endogam, also innerlich. Der deutsche Sprecher der Bewegung bestreitet dies. Es ist aber davon auszugehen, dass auch heute noch Ehefrauen strategisch vermittelt werden. Eine Lehrerin berichtete, dass ein 16-jähriges Mädchen befürchtete, über einen Imam des lokalen Gülen-Netzwerks verheiratet zu werden, und suchte bei ihr um Rat.
Häuser des Lichts und Wohnheime sind zentrale Orte, um junge Leute zu treffen. „Die Studenten in den Häusern bauen die nächste Generation der Bewegung auf“, erklärt ein Wissenschaftler. Diesem Zweck dient auch das informelle Sohbet, das nach Geschlechtern getrennt geführt wird. „Da spielen sowohl vertrauensvolle Beziehungen als auch Autoritäten eine große Rolle“, sagt sie.
Sie hat auch erlebt, dass die Gülen-Bewegung sich öffentlich für Transparenz einsetzt, aber ihre interne Hierarchie und Jugendarbeit abschottet. Sie hat zwischen 2013 und 2015 elf Gülen-Schulen in Tansania untersucht. „Es hieß, alles sei transparent. Aber erst eineinhalb Jahre später erfuhr ich, dass in den Schulen nachmittags religiöse Zusammenkünfte für Gymnasiasten abgehalten wurden, in denen Gülen-Videos diskutiert wurden“, berichtet sie. „Diese Formen der Geheimhaltung sind ganz charakteristisch für die Bewegung.“
Die „goldene Generation“ wird vor allem durch die Umsetzung von Gülens Wertvorstellungen gebildet. Dazu gehören nicht nur der klassische islamische Verhaltenskodex, sondern auch bedingungslose Loyalität und Aufopferung für die Cemaat. Wer abweicht oder Reformen will, ist gegen göttlich legitimierte Pflichten, gegen Gülen selbst und bedroht die Gemeinschaft. Im Gegensatz zur westlichen Geistesgeschichte, die mit der Aufklärung den Menschen als ein von Gott unabhängiges Subjekt akzeptierte, das auch vernünftigerweise von Gott losgelöst handeln kann, bleibt der Mensch bei Gülen – im klassischen islamischen Sinne – vor allem ein „Diener Gottes“. Diese Überbetonung der Moral kann, wenn sie nicht auf Menschen, sondern auf heiliger Schrift beruht, einen totalitären Aspekt sozialer Kontrolle offenbaren und entsprechend genutzt werden: Nach außen zeigt die Bewegung Akzeptanz für religiöse Überzeugungen, sexuelle Orientierungen oder sogar für Frauen ohne Kopftuch. Innerlich gelten jedoch nur restriktiv eingeforderte islamische Verhaltensregeln.
Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei, bei dem Mitglieder der Gülen-Bewegung eine Schlüsselrolle gespielt haben sollen, wird die Bewegung gnadenlos verfolgt. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden bislang Ermittlungen gegen 500.000 Menschen der sogenannten „fethullahistischen Terrororganisation“ eingeleitet, 38.000 Unterstützer sind meist rechtswidrig inhaftiert. In den sozialen Medien häufen sich Berichte von Opfern über Folter, in Haft verstorbene Angehörige und über dramatische Fluchtszenen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Deutschland führt keine Statistiken über Asylgründe. Aufschluss geben jedoch die freiwilligen Angaben zur „Ethnizität“ bei der Antragstellung in Verbindung mit der Anerkennungsquote. Insgesamt 44.000 türkische Staatsbürger haben zwischen 2016 und Dezember 2020 Asyl beantragt. Etwa die Hälfte gab an, „kurdischer Abstammung“ zu sein. Ihre Wiedererkennungsrate lag nur im niedrigen zweistelligen Bereich. Die andere Hälfte kreuzte die freiwillige Angabe an, dass sie „türkisch“ seien. Diese Gruppe erhielt in allen Bundesländern rund 80 Prozent Anerkennung. Es liegt auf der Hand, dass die Mehrheit von ihnen Gülen-Anhänger sind.
10.900 der türkischen Staatsbürger wurden dem deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen zugeordnet, davon 6.520 mit „türkischer Volkszugehörigkeit“. Nur in dieser Gruppe sprang die Anerkennungsquote von zehn Prozent im Jahr 2016 auf 82 Prozent im Jahr 2017 – und blieb auf diesem Niveau. Bewerber mit »kurdischer Volkszugehörigkeit« wurden hingegen nur von durchschnittlich 20 Prozent anerkannt.
Nordrhein-Westfalen ist seit langem ein Hotspot der deutschen Gülen-Bewegung. Eine Auswertung zahlreicher Twitter-Accounts von offenbar geflüchteten und mit der Bewegung sympathisierenden Menschen zeigt, dass die Gülen-Strukturen im Land bereit sind, schnell Zertifikate für Integrationskurse beantragen und niedrigschwellige Deutschkurse und andere Begegnungsformate einrichten. Mehr als 60 Einzelorganisationen sind dort aktiv. In den letzten 30 Jahren haben sie sich noch nie öffentlich erklärt oder als Netzwerk identifiziert. Erst im vergangenen Jahr erschienen die Verbände auf der Website des Düsseldorfer Vereins Engagierter Zivilgesellschaft (VEZ). Dieser besteht seit 2014 und bezeichnet sich – anders als seine Mitgliedsverbände – als »Hizmet-nah«.
Besonders tief verwurzelt ist das Netzwerk im Ruhrgebiet. Der Rheinische Dialog- und Bildungsverein (RDuB) betreibt seit 2016 die private Kant-Berufsschule in Duisburg-Hamborn. Für ihren Betrieb erhält die Agentur jährlich 340.000 Euro. Der Hamborner Bürgermeister lobte die Schule und sagte, sie stärke die Identifikation mit dem Landkreis. Er erwähnt weder die Gülen-Verbindungen der Schule, noch sind sie leicht zu identifizieren. Bei einer Recherche vor Ort im vergangenen Jahr stellte Schulleiter Hartmut Feldwisch fest, dass es nichts mit einem religiösen Netzwerk zu tun habe. Aber er berichtete über die Zusammenarbeit mit dem House of One in Berlin: Dessen Imam aus dem Gülen-bezogenen »Forum Dialog« Workshops an der Kant-Schule geleitet hatte. Geplant war auch eine Exkursion zu dieser christlich-jüdisch-islamischen Gebetsstätte.
Der RDuB ist bei der Beschaffung von Steuergeldern sehr erfolgreich, wie Listings des Regierungspräsidiums Rheinland (LVR) zeigen. 145.000 Euro flossen in den letzten zwei Jahren in Jugendprojekte. Auch für Fernreisen gab es Geld: 2019 gab es eine Exkursion mit dem Titel „Helfende Jugend in Nordrhein-Westfalen“. Als Bildungsziele werden auf der Vereinswebsite »Empathie für andere Lebensentwürfe, Sensibilisierung, Bildung, Toleranz, Respekt und Anerkennung neuer Kulturen« genannt. Ziel war Nigeria, Kooperationspartner der Nile University.
Der Ausflug wurde laut LVR mit 18.200 Euro bezuschusst. Sechs Jugendliche und zwei Betreuer nahmen daran teil. Das Netzwerk in Nigeria ist eines der reichsten der Gülen-Bewegung in Afrika, darunter die 2009 gegründete Nile University mit ihren 3.500 Studierenden. Geleitet wird es von einem türkischen Wirtschaftsprofessor, der zuvor an den Gülen-Universitäten in der Türkei Karriere gemacht hat. Neben der Nile University gibt es zehn Schulen, Wirtschaftsverbände, ein Krankenhaus, Reisebüros und die Ufuk Dialogue Foundation. Auf der Website der Hochschule sind im November 2019 Bilder von sechs jungen Männern zu sehen, die als „Studierende der Universität Duisburg-Essen“ vorgestellt werden. Die Frage, ob Mädchen an der Reise teilgenommen haben, beantwortet der RDuB nicht.
Gülen-Vereine aus anderen deutschen Städten planten weitere Jugendreisen, um mit Hilfe der öffentlichen Hand ihre internationalen Kontakte zu pflegen. Ihre Anträge wurden für 2019 und 2020 bewilligt. Ziele: Tansania, Äthiopien, Mosambik, Ägypten und Bosnien. Gesamtförderung: 135.600 Euro. In all diesen Ländern ist das Netzwerk stark vertreten, darunter auch die fünf Kooperationspartner, die die Verbände in ihren Anträgen nennen.
In Berlin hingegen läuft es gut. Bund und Land leisten einen großen Beitrag zum House of One – einem jüdisch-christlich-muslimischen Gebetsort, in dem ein Dialogverein der Gülen-Bewegung der einzige muslimische Partner ist. Zehn Millionen Euro kommen vom Bund, weitere zehn vom Land Berlin. Ein anerkannter französischer Politikwissenschaftler, der seit Ende der 1990er Jahre weltweit das Gülen-Netzwerk erforscht, ist entsetzt. „Die Bewegung ist vielleicht nicht militant, aber im Wesentlichen eine Sekte. Sie hat eine islamistische Agenda, die sie nicht offenlegt, und beansprucht die alleinige Vertretung des Islam. Es ist kein Kooperationspartner für Regierungen“, sagt er. Er findet es „peinlich“, dass Deutschland seit zwei Jahren auch Jugendreisen ins Ausland für Unterstützer finanziert.
Auch im weltweit tobenden Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der Gülen-Bewegung ist der afrikanische Kontinent eine Frontlinie. Erst in diesem Sommer hat der türkische Geheimdienst in Kenia einen Verwandten des Predigers Gülen in die Türkei entführt. Und in Äthiopien stehen deutsche Gülen-Unternehmer nun dem türkischen Staat gegenüber. Laut türkischen Medien hat ein Berliner Verein im Jahr 2018 die fünf »Intellektuellen Schulen« in Äthiopien übernommen. Sie bereiten sich derzeit auf den Status „Deutsche Auslandsschule“ vor, die Bewerbung beim Auswärtigen Amt läuft, berichtet die Schulwebsite. Es wäre ein strategischer Fehler, der Schule diesen Status zu geben. Das Auswärtige Amt würde damit eine Partei in einem internationalen Konflikt stärken und ein Sicherheitsproblem innerhalb und außerhalb Deutschlands verschärfen.