Das türkische Staatsfernsehen wählte harsche Worte zum Tod des Predigers Fethullah Gülen, dem Ankara vorwirft, den Putschversuch von 2016 orchestriert zu haben. Ein „Verräter, Republikfeind und Feind der Religion“ sei gestorben. Angehörige Gülens bestätigten, dass der 83 Jahre alte Prediger in den Vereinigten Staaten gestorben war. In einem Kanal auf der Plattform X, über den bisher seine Predigten verbreitet wurden, hieß es, Gülen habe „jeden Moment seines Lebens damit verbracht, der heiligen Religion des Islams und der Menschheit zu dienen“.
Zehntausende Anhänger und vermeintliche Unterstützer Gülens waren 2016 nach dem gescheiterten Staatsstreich inhaftiert worden. Sogar vor Verschleppungen aus dem Ausland schreckte der türkische Geheimdienst nicht zurück. Bis heute hält Präsident Recep Tayyip Erdoğan kaum eine Rede, ohne die angebliche Bedrohung von „Fetö-Terroristen“ für die Türkei zu beschwören. Dabei war Gülen jahrelang ein Verbündeter Erdoğans gewesen. Von 2012 an lieferten sich beide einen erbitterten Machtkampf. Seit 2015 forderte die Türkei von den Vereinigten Staaten Gülens Auslieferung. Der Putschversuch ein Jahr später belastet bis heute die amerikanisch-türkischen Beziehungen. Immer wieder hat Erdoğan insinuiert, Washington sei der eigentliche Drahtzieher gewesen. Gülens Tod könnte nun einen der Streitpunkte zwischen beiden Ländern beilegen. Ankara scheint aber vorerst nicht gewillt, dieses leidvolle Kapitel der türkischen Geschichte abzuschließen. Außenminister Hakan Fidan sagte nach der Todesnachricht: „Der Kampf gegen Terrorismus wird fortgesetzt.“ Allerdings schien er den Anhängern der Bewegung eine Brücke bauen zu wollen. Gülen habe Tausende junge Leute „im Namen heiliger Werte getäuscht“. Mit seinem Tod müsse dieser falsche Zauber enden. „Ich lade sie ein, den verräterischen Weg zu verlassen, auf den sie sich begeben haben.“ Justizminister Yılmaz Tunç schrieb auf X, die Bewegung stelle weiterhin eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Türkei dar. Gerichtsverfahren und Auslieferungsgesuche gegen mutmaßliche Gülenisten würden mit gleicher Entschlossenheit fortgesetzt.
In türkischen Medien wurde über mögliche Nachfolger Gülens und eine Spaltung der Bewegung spekuliert. Berichtet wurde auch über ein mutmaßliches internes Memo des türkischen Geheimdienstes MIT, das sich angeblich auf abgehörte Kommunikation zwischen führenden Gülenisten bezog. Der MIT hält laut dem durchgestochenen Memo eine Spaltung der Bewegung in ein amerikanisches und ein europäisches Lager für wahrscheinlich und geht davon aus, dass ein interner Machtkampf mit harten Bandagen ausgetragen werden könnte. Die Organisation finanziert sich unter anderem über Privatschulen in den USA und anderen Ländern. In Ankara wurde zudem spekuliert, dass jene, die im Streit um Gülens Nachfolge unterliegen, weitere Details über die Organisation preisgeben könnten.
Gülen verstand es, seine Anhänger über Jahrzehnte hinweg in Schlüsselpositionen in der Armee, der Polizei und der Justiz zu bringen. Andere Anhänger kontrollierten Medien und Unternehmen. Sein weitreichendes Netzwerk machte Gülen zunächst zu einem wertvollen Verbündeten für den damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Dieser sah sich in den frühen Jahren seiner Herrschaft mit Versuchen des Militärs konfrontiert, seine islamistisch geprägte Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zu entmachten. Gülen half ihm mithilfe seines Einflusses im Justizapparat. Ihm mutmaßlich nahestehende Staatsanwälte führten Schauprozesse mit offenbar manipulierten Beweisen gegen eine angebliche Verschwörung des „tiefen Staates“ aus Militärs und Polizei.
Von 2010 an gab es erste Differenzen zwischen Gülen und Erdoğan, unter anderem in den Beziehungen zu Israel. 2012 brach der Machtkampf offen aus. Zunächst luden Polizisten mit mutmaßlichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung den damaligen Geheimdienstchef und heutigen Außenminister Hakan Fidan vor. Daraufhin kündigte Erdoğan die Schließung von Gülen-Schulen an. Als Reaktion leiteten Staatsanwälte, die Gülen nahestanden, Korruptionsermittlungen gegen mehrere Minister ein. Der Mitschnitt eines angeblichen Telefonats zwischen Erdoğan und seinem Sohn Bilal legte den Verdacht nahe, dass auch der Ministerpräsident in Korruptionsfälle verwickelt sei. Erdoğan bestritt die Echtheit der Aufzeichnung. Bei den Ermittlungen ging es um ein System aus verdeckten Geschäften, mit dem die Türkei Iran bei der Unterlaufung von US-Sanktionen unterstützt haben soll.
In seinen Reden und Interviews stellte er seine Bewegung als harmlose Vereinigung frommer Muslime dar, die sich in den Dienst der Gesellschaft stellen wollten. Viele westliche Beobachter sahen in Gülen eine moderate Stimme des Islams, der amerikanische Präsident Bill Clinton lobte seine Ideen zum interreligiösen Dialog. Um dem Argwohn des Militärs gegenüber Gülen-nahen Kadetten zu begegnen, sollen diese in den Neunzigerjahren gar ihre Frauen ermutigt haben, bei Poolpartys des Militärs in besonders knappen Bikinis zu erscheinen.
Gülen hat eine Beteiligung am Putschversuch 2016 bestritten. Er warf Erdoğan vor, die Militäraktionen, bei denen 62 Polizisten und 173 Zivilisten getötet worden sein sollen, inszeniert zu haben. Vor Journalisten in seinem Anwesen in Pennsylvania rief Gülen allerdings seine Anhänger auf, geduldig zu sein. „Der Sieg wird kommen.“ Viele Fragen über die Hintergründe der Putschnacht sind bis heute unbeantwortet, darunter jene, wie früh die Staatsführung über die Pläne der Aufrührer unterrichtet war. Klar ist, dass Erdoğan die Lage nutzte, um seine Macht zu zementieren. Noch in der Putschnacht sprach er von einem „Geschenk Gottes“, das ihm ermögliche, die „Streitkräfte zu säubern“. Dabei beließ Erdoğan es nicht. Er rief den Notstand aus und brach eine Hexenjagd gegen vermeintliche Anhänger der Bewegung in allen staatlichen Institutionen vom Zaun. Zehntausende Polizisten, Richter und Lehrer wurden festgenommen. Das Vakuum füllte Erdoğans neuer Bündnispartner, die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung. Auch in Deutschland wurden Anhänger der Gülen-Bewegung denunziert, bespitzelt oder sogar angegriffen. Der türkische Rechtsstaat erlitt so schweren Schaden, dass er sich bis heute nicht davon erholt hat. Das könne erst passieren, wenn die jetzige Regierung abtrete und eine unabhängige Untersuchung durchgeführt werde. Die Türkei braucht eine ernsthafte Debatte darüber, wie alle rechtswidrigen religiösen Bewegungen die Demokratie bedrohen, nicht nur eine.