Vor genau sechzig Jahren kommt in Jerusalem zum ersten Mal eine Organisation zusammen, die bis heute den Anspruch erhebt, die Vertreterin aller Palästinenser zu sein: Die Palestine Liberation Organization, kurz PLO. Ins Leben gerufen wurde sie von Ägypten und anderen arabischen Staaten, die den palästinensischen Widerstand gegen Israel kontrollieren und für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren wollten. Doch die Führung der PLO geht bald schon an zwei Männer über, die ihre eigene Agenda hatten und nicht bloßes Instrument für die benachbarten arabischen Despoten sein wollten: Yasir Arafat und Mahmud Abbas.
Die beiden hatten im Oktober 1959 in Kuwait gemeinsam mit anderen palästinensischen Flüchtlingen eine Organisation gegründet, der sie den Namen Fatah verliehen – ein Akronym für Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas und bedeutet zugleich «Eroberung» auf Arabisch. Arafat und Abbas wussten zu diesem Zeitpunkt wohl nicht, dass sie die Geschichte des Nahen Ostens und der Palästinenser maßgeblich prägen würden. Zwar war dies zweifellos ihr Anspruch – doch letztlich kommt alles anders als gedacht.
Die Geschichte der PLO ist untrennbar verknüpft mit der Geschichte von Arafat, Abbas und ihrer Fatah. Angesichts des Krieges in Gaza stellt sich die Frage: Hat die PLO sechzig Jahre nach ihrer Gründung noch eine Zukunft?
Der israelische Unabhängigkeitskrieg von 1948 ist ein schwerer Schlag für die Palästinenser. Hunderttausende werden im Rahmen der sogenannten Nakba (Katastrophe) vertrieben oder flüchten, ihre Anführer und Eliten verstreuen sich über den ganzen Nahen Osten. Mit der Zeit bilden sich verschiedene Widerstandsgruppen, darunter die Fatah. Sie strebt die Zerstörung des jüdischen Staates an. Bei ihrem Ziel, einen demokratischen palästinensischen Staat zu errichten, gilt ihr der bewaffnete Kampf als einziger Weg. Doch all diesen diffusen Widerstandsgruppen fehlt es an Koordination und Führung. So wird nach einem Gipfeltreffen der Arabischen Liga am 28. Mai 1964 die PLO ins Leben gerufen, um diese Gruppen unter ein Dach zu bringen. Dabei geht es den arabischen Staaten auch darum, die ungestümen Palästinenser besser kontrollieren zu können – denn sie fürchten, von diesen in einen grösseren Konflikt gezogen zu werden.
Die Fatah unter Yasir Arafat nimmt ab 1965 den bewaffneten Kampf gegen Israel auf, etwa mit Angriffen auf das israelische Bewässerungssystem. Doch die Organisation bleibt vorerst blass und unbedeutend. Das ändert sich 1968: Israel rückt auf die jordanische Ortschaft Karameh vor, um die dortigen Fatah-Basen zu zerstören. Zwar entscheiden die Israeli die Schlacht für sich, doch die palästinensischen Kämpfer fügen ihnen empfindliche Verluste zu. Die Bilder von zerstörten israelischen Panzern gehen um die Welt. Es ist ein PR-Coup für die Fatah, die nun zum Gesicht der palästinensischen Widerstandsbewegung wird. In Scharen melden sich Freiwillige für den bewaffneten Kampf. Mit ihrer antiimperialen Rhetorik begeistert sie auch Teile der europäischen Linken. Im Jahr 1969 übernimmt der charismatische Arafat den Vorsitz der PLO. Fortan konzentriert sich alles auf ihn, er bestimmt Taktik, Strategie und Programm der Organisation, die sich gleichzeitig von den arabischen Staaten emanzipiert – wobei sie auf deren Finanzierung angewiesen bleibt.
Von Jordanien aus intensiviert die PLO ihren Kampf gegen Israel. Statt nur militärische Ziele anzugreifen, gehen manche Gruppen zum internationalen Terror über. Im September 1970 entführen palästinensische Terroristen drei Flugzeuge in die jordanische Wüste. Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt – der jordanische König Hussein, der um die Stabilität des eigenen Landes fürchtet, geht hart gegen die Palästinenser vor und wirft die PLO aus dem Land. Die geschwächte Organisation verlegt ihr Hauptquartier in die libanesische Hauptstadt Beirut. Aufgrund der brutalen Terroranschläge einiger PLO-Fraktionen hat sie insbesondere in Europa Sympathien eingebüsst. So vollzieht Arafat 1974 einen Kurswechsel. Er sagt, er sei zur Koexistenz mit Israel bereit, und distanziert sich vom internationalen Terrorismus, setzt aber die Angriffe auf den jüdischen Staat fort. Im selben Jahr anerkennt die Arabische Liga die PLO als einzige legitime Vertretung des palästinensischen Volkes. Derweil anerkennt die Generalversammlung der Uno das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und gewährt der PLO Beobachterstatus.
Einerseits ist die PLO 1975 massgeblich am Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs beteiligt und wird fortan von christlichen Milizen bekämpft. Andererseits will Israel die palästinensischen Guerillaaktionen aus Libanon nicht länger hinnehmen und rückt 1982 bis nach Beirut vor. Erneut muss die PLO ihren Hauptsitz verlagern und übersiedelt nach Tunis – das verhasste Israel gerät ausser Reichweite. Doch Arafat kommt entgegen, dass 1987 die erste Intifada ausbricht. Bald schon koordiniert die Exilführung den Volksaufstand, der der palästinensischen Sache wieder internationale Sympathien einbringt.
Arafat nutzt die Gunst des Moments und ruft im November 1988 die Unabhängigkeit Palästinas aus. In einer Rede vor der UN-Generalversammlung verurteilt er zudem jede Form des Terrorismus. Jene Artikel der PLO-Charta, die die Zerstörung Israels fordern, erklärt er für hinfällig und spricht sich für eine Zweistaatenlösung aus. Damit bereitet er den Boden für geheime Verhandlungen mit Israel in den 1990er Jahren, die in den Oslo-Abkommen münden. Der jüdische Staat anerkennt darin die PLO als legitime Vertreterin der Palästinenser. Man kommt überein, innerhalb fünf Jahren ein endgültiges Friedensabkommen auszuhandeln. Ein palästinensischer Staat scheint in Reichweite.
In dieselbe Zeit fällt jedoch eine Entwicklung, die der Arabist Gilles Kepel als die „Islamisierung der Palästinafrage“ bezeichnet. Mit der 1987 gegründeten Hamas macht eine kompromisslose, islamistische Organisation der PLO die Führungsrolle im palästinensischen Widerstand streitig, die zudem reichlich mit arabischen Petrodollars ausgestattet ist. Weil sich Arafat im Golfkrieg auf die Seite des irakischen Diktators Saddam Hussein schlägt, sind die Monarchien am Golf nicht mehr gut auf die PLO zu sprechen.
Die Oslo-Abkommen haben widersprüchliche Folgen für die PLO: Zwar kann die Exilführung nun endlich ihre Machtbasis in den palästinensischen Gebieten ausbauen. Doch indem sie dort die Führung der als Übergangslösung gedachten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) übernimmt, bekommt sie auch konkrete Verantwortung. Wenn eine Befreiungsbewegung zu einer Regierungspartei wird, muss sie sich mit ganz alltäglichen Problemen des Regierens befassen. Die PA übernahm praktisch alle Funktionen der PLO. Deren Autorität verblasste allmählich, bis sie faktisch nicht mehr existierte. Diese Entwicklung hat gleichzeitig die Beziehungen zur Diaspora zerrüttet, die nun keine wirkliche Stimme mehr hatte. Dazu kommt, dass nun auch Sicherheitskräfte der PA gegen die Hamas und andere islamistische Gruppen ankämpfen – plötzlich gelten Arafat und Co. als Kollaborateure Israels und Feinde des Befreiungskampfes.
Als nach der Jahrtausendwende die Oslo-Abkommen sowie die Friedensverhandlungen in Camp David scheitern und die zweite Intifada ausbricht, steht Arafat vor einem Scherbenhaufen. Um seine Legitimität zu reparieren, stellt er sich demonstrativ an die Spitze des blutigen Aufstands. Dieser wird aber primär von lokalen Fatah-Kadern angeführt, die nun wieder auf Terrorismus gegen Israel setzen. Zwischen Fatah-assoziierten Gruppen und der Hamas entspinnt sich zunehmend ein Wettstreit, wer die spektakulärsten Attentate verübt. Bei den Anschlägen sowie den israelischen Gegenangriffen werden überwiegend Zivilisten getötet.
2004 stirbt Arafat. Sein Weggefährte Mahmud Abbas nimmt dessen Platz an der Spitze der PLO, der PA und der Fatah ein. Unter ihm nimmt die PA zwar wieder eine begrenzte Kooperation mit Israel auf. Dennoch vertieft sich die Krise der palästinensischen Führung. Zunehmend verliert sie das Vertrauen der Bevölkerung, die Abbas als Erfüllungsgehilfen Israels sieht. Abbas kämpft mit repressiven Mitteln um seinen Machterhalt statt um die Selbstbestimmung seines Volkes. Die Korruption grassiert in seiner Behörde. Gleichzeitig entgleitet ihm die Kontrolle über das Westjordanland, wo sich islamistische Terrorgruppen breitmachen.
Nach den palästinensischen Parlamentswahlen von 2006, bei denen die Hamas eine Mehrheit gewinnt, kommt es zum Bruch zwischen Abbas und der Hamas. Ein Jahr später reissen die Islamisten endgültig die Macht im Gazastreifen an sich. Nun konkurrieren zwei palästinensische Machtzentren. Die anhaltenden Spannungen zwischen PA und Hamas sind ein Geschenk für Israel, dessen Regierung ohnehin kein Interesse an einer geeinten palästinensischen Regierung hat und aktiv versucht, die Risse weiter zu vertiefen.
Dann kommt der brutale Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023. Während dieser den Islamisten in den palästinensischen Gebieten einen weiteren Popularitätsschub verleiht, fällt die Führung um Abbas vor allem durch betretenes Schweigen auf. Zwar hegen die USA Pläne, die PA zu „revitalisieren“ und sie nach dem Krieg im Gazastreifen als Ordnungsmacht zu installieren. Doch es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Führung um Abbas dazu willens oder fähig wäre.
Im Februar 2024 verhandelt die PLO gar mit der Hamas – zum erneuten Mal – über eine Aufnahme der Islamisten in die Dachorganisation und eine palästinensische Einheitsregierung. Die Gespräche verlaufen ergebnislos. Auch Abbas weiss, dass er in Wahlen gegen die Hamas wohl erneut unterliegen würde.
Es ist nun eher unwahrscheinlich, dass sich die PLO neu aufstellt und wieder eine Führungsrolle im Kampf der Palästinenser um Selbstbestimmung übernimmt. Wahrscheinlicher ist, dass es einen Kollaps der PA im Westjordanland geben wird. Die USA und die Europäer werden jedoch alles tun, um das zu verhindern. Sie wollen keine Machtübernahme der Hamas. Sechzig Jahre nach ihrer Gründung ist die PLO so schwach wie nie zuvor.
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