Immer wieder werden in der Türkei Szenen beobachtet, dass AKP-Offizielle bei Protestaktionen junger Menschen zur miserablen Wirtschaftslage im Land ihnen Vorhaltungen zu ihren Gadgets machen. Die Anhänger der Erdogan-Regierung wollen sagen: So schlecht kann es euch nicht gehen, wenn ihr iPhones besitzt.
Auch in den Social Media werden tausendfach Videos geteilt, in denen Familien zu ihrem Wahlverhalten interviewt werden. Dort stehen dann Ehepartner, die Frau mit Kopftuch, und schwören sich gegenseitig ewige Treue. Nicht für ihre Liebe, sondern für den Präsidenten und seine Partei. Dann werden auch die jungen Töchter befragt, die auch ein Kopftuch tragen. Sie antworten dann häufig: „Also dass ich Erdogan nicht wählen werden, ist ja wohl klar.“ Die Mütter daraufhin: „Das ist eben die Generation Z.“
Dass die türkische Opposition bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai eine realistische Chance hat, gegen die seit mehr als 20 Jahren regierende AKP zu gewinnen, liegt auch an den jungen Türken. Denn sie haben es geschafft, ein früheres politisches Trauma zu verarbeiten.
Die historischen Wunden der Türkei, die sich als tiefe Narben in ihrer politischen Kultur bemerkbar machen, werden langsam geheilt. Der politische Minderwertigkeitskomplex, dass die Türkei für den Westen unbedeutend sei, gilt für sie nicht mehr. Die Türkei ist heute ein beliebtes Reiseziel, von Antalya über Kappadokien bis nach Van. Die jungen Menschen verfolgen auf Instagram, wie ein international bekanntes Model und Influencerin sich vor der türkischen Botschaft in New York mit Sachspenden für die Erdbebenopfer fotografieren lässt, sie liken Fotos, auf denen türkische Influencer gern gesehene Gäste auf den Fashion Weeks in Mailand oder Paris sind, ihre Seriendarsteller werden von Frauen und Männern auf der ganzen Welt angehimmelt.
Heute will die türkische Jugend mehr denn je ein Teil des Westens sein. Aber nicht nur mit Starbucks-Kaffee und dem neuesten iPhone, sondern mit Freiheit, einem Rechtsstaat und Menschenrechten. Sie sind heute selbstbewusst genug, um die Konfliktlinien in der Türkei zu versöhnen. Denn sie schließen schon lange nicht mehr ihre Freundschaften entlang ethnischer oder weltanschaulicher Linien.
Sechs oppositionelle Parteien haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen und einen gemeinsamen Kandidaten aufgestellt. Der Oppositionsführer der säkularen CHP, Kemal Kilicdaroglu, geht gegen Erdogan ins Rennen. Auch die pro-kurdische HDP und die Arbeiterpartei werden ihn unterstützen, obwohl im Bündnis neben der linksgerichteten CHP gerade rechtskonservative Parteien sind. Das ist ein historischer Moment in der Türkei, das Land hat sich gewandelt. Unterschiedliche Gruppen haben aufgehört, nur an ihrer eigenen Front für Freiheit und politische Selbstbestimmung zu kämpfen, denn sie wissen, dass sie den Kampf für die Demokratie sie nur gemeinsam gewinnen können. Und dafür brauchen sie eine Versöhnung.
Wenn Menschen in der Türkei heute bereit sind, gesellschaftlich zwischen den unterschiedlichen Gruppen Frieden zu schließen, dann ist das auch die konsequente Folge von dem, was vor genau zehn Jahren mit den Gezi-Park-Protesten begonnen hat. Was als kleine Protestaktion von Künstlern und Umweltschützern in Istanbul begann, die sich dagegen sträubten, dass im Gezi-Park am Taksim-Platz ein neues Einkaufszentrum gebaut werden sollte, entwickelte sich zur größten Protestwelle im ganzen Land gegen die AKP-Regierung.
Es war aber eine Anti-Bewegung verschiedener Gruppen, die sich gegen Erdogan gestellt hatten, ohne klare und vor allem ohne gemeinsame Ziele. Heute aber hat die politische Opposition konkrete politische Ziele formulieren können, statt nur ein AKP-Bashing zu betreiben und die Angst vor einer Islamisierung zu schüren. Es sind Ziele, mit denen sich Menschen unterschiedlicher politischer Couleur identifizieren können: Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Denn sie haben in den letzten Jahren eines autoritären Regimes gespürt, dass nur eine liberale freiheitliche Demokratie die Vielfalt der politischen und weltanschaulichen Bewegungen in der Türkei garantieren kann.
Der türkische Staatspräsident Erdogan hat noch immer loyale Anhänger, die in ihm den starken Mann sehen, der das Land durch Krisen führt und international das Ansehen der Türkei mehrt. Allerdings hat das Erdbeben in zehn Provinzen der Türkei bei vielen seiner konservativen Wähler in Anatolien ihr Bild über die Regierung und die türkische Gesellschaft verändert.
Auch wenn Erdogan die Wahlen wieder gewinnen sollte, die Gesellschaft hat sich in den vergangenen zehn Jahren stark gewandelt. Eine demokratische Türkei ist nur dann nachhaltig, wenn ein gesellschaftlicher Frieden zwischen den traditionellen Konfliktlinien, zwischen der Ost- und Westtürkei, zwischen türkischen und kurdischen Identitäten, zwischen alevitisch-sunnitischen Konfessionen, zwischen säkularen und islamischen Weltanschauungen möglich ist.
Staatsgründer Atatürk hat versucht, diese Konfliktlinien über Nacht mit einem Nationalstaat und einer klaren proeuropäischen und streng laizistischen Identität zu überdecken. Nur konnte er damit nicht das ganze Land überzeugen, die türkische Demokratie stand seither auf wackligem Boden.
Heute ist es anders. Die Türkei erlebt den Beginn einer neuen demokratischen Ära mit einer gemeinsamen Vision des Landes, das sich eine Einheit in seiner Vielfalt, inneren Frieden und Demokratie wünscht.
An diesem Punkt stand die Türkei schon einmal: Als Erdogan 2002 an die Macht kam, um das Land zu demokratisieren und zu liberalisieren. Ihn wählten nicht nur Rechtskonservative, sondern auch Linke und Kurden. Sie hatten Hoffnung in Erdogan und seine politischen Ziele für eine sichere und demokratische Türkei gesetzt. Heute haben die Türken aber dazugelernt: Es ist kein starker Führer, der ihnen ihre demokratische Zukunft garantiert. Das türkische Volk ist erwachsen geworden. Die türkische Jugend ruft der älteren Generation entgegen: Eine demokratische und friedliche Türkei? Das schaffen wir selbst.
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