Es sind mittlerweile einige Prozesstage vergangen im bislang größten und teuersten Strafprozess, den Belgien je erlebt hat. Die Anklage lautet auf 32-fachen Mord, 687 Mordversuche und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Zehn Männer müssen sich wegen der Anschläge von 2016 in der belgischen Hauptstadt Brüssel verantworten, fast 400 Zeugen müssen befragt werden. Fast tausend Nebenkläger nehmen daran teil, das Gericht tagt – aus Platz- und Sicherheitsgründen – im früheren Hauptquartier der NATO. Wie belgische Zeitungen unter Berufung auf Dokumente des Justizministeriums berichteten, belaufen sich die Kosten des Prozesses auf mindestens 35 Millionen Euro – was vor allem an den Umbauten im früheren NATO-Gebäude liegt.
Der mutmaßliche Kopf der Gruppe ist zwar angeklagt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach seit mehreren Jahren tot. Oussama Atar wurde 2017 bei einem amerikanischen Luftangriff auf Mitglieder des „Islamischen Staats“ (IS) in Syrien getötet. Weil sein Tod offiziell nie bestätigt worden ist, wurde er trotzdem angeklagt – wie auch schon beim Pariser Prozess um die Anschläge vom 13. November 2015. Er soll in beiden Fällen die Angriffe geplant und die Selbstmordattentäter ausgesucht haben. Das erklärt, warum fünf weitere Angeklagte hier wie dort beteiligt waren und Ende Juni vergangenen Jahres schon in Frankreich zu Haftstrafen verurteilt wurden. Die belgische Justiz musste diese Urteile erst abwarten, bevor ihr die Angeklagten für den Brüsseler Prozess überstellt wurden. Das Brüsseler Gericht wird in den nächsten Monaten gegen den Eindruck kämpfen müssen, es betreibe nur eine Zweitverwertung. Beim Prozess in Paris hatte Salah Abdeslam als einziger Überlebender des zehnköpfigen Todeskommandos willig die Hauptrolle angenommen. Als er dort nach seinem Beruf befragt wurde, antwortete er: „Ich habe jeden Beruf aufgegeben, um Kämpfer für den Islamischen Staat zu werden.“ Auf dieselbe Frage antwortete er in Brüssel: „Elektromechaniker.“
Die Geschichte der Brüsseler Anschläge beginnt am Morgen des 14. November 2015 mit der Rückkehr von Salah Abdeslam aus Paris. Neun Attentäter haben bei den Anschlägen am Abend zuvor ihr Leben gelassen, darunter sein Bruder Brahim. Er selbst hat, warum auch immer, den Sprengstoffgürtel wieder abgenommen, und lässt sich nun von zwei Brüsseler Freunden mit einem Auto abholen. Am Grenzübergang stehen die drei im Stau, eine belgische Radioreporterin interviewt sie, Abdeslam sagt: Schon ein bisschen übertrieben, diese Polizeikontrollen. Die Polizei lässt ihn passieren, sein Name steht noch nicht auf den Fahndungslisten. In Brüssel versteckte er sich mit einem weiteren Täter.
Untergetaucht stößt Abdeslam zum Rest der Zelle, man diskutiert neue Anschläge. Sie sprechen über den Hafen von Antwerpen, über Kinderkrippen, über die Entführung eines Generals, um zwei Brüsseler Kampfgefährten aus dem Gefängnis freizupressen. Am Ende entscheiden sie, noch einmal Frankreich anzugreifen, ihr Erzfeind wegen der Luftangriffe auf den IS. Ihr Ziel ist die Eröffnungsfeier der Fußballeuropameisterschaft am 10. Juni 2016. Die Sprengstoffexperten unter ihnen fangen an, Hunderte Kilo Sprengstoff zu mischen, Acetonperoxid, sie nennen den Stoff: „Mère de Satan“, des Teufels Mutter. Doch die Fahndung nach Salah Abdeslam durchkreuzt ihre Pläne. Am 15. März entkommt er der Polizei in einer wilden Schießerei im Brüsseler Stadtteil Forest, am 18. März stöbert ihn die Polizei in einer Kellerwohnung in Molenbeek auf. Der Rest der Gruppe fürchtet die Entdeckung, sie haben keine Verstecke mehr, sie wollen so schnell wie möglich losschlagen, nun doch in Brüssel. Und so machen sie sich am Morgen des 22. März 2016 sprengstoffbeladen auf den Weg.
Fünf Männer zogen also los, um sich und möglichst viele weitere Menschen zu töten. Drei von ihnen fuhren zum Flughafen in Brüssel. In ihren Koffern befanden sich selbstgebaute Sprengsätze mit Nägeln. Kurz vor neun Uhr morgens zündeten zwei Täter ihre Bomben in den Reihen des Check-ins. Durch die Wucht der Explosion zerbarsten die Glasscheiben, ein Teil der Glasdecke stürzte herab. Der dritte Täter wurde dabei zu Boden geschleudert und konnte seinen Sprengsatz nicht mehr auslösen. Er lief zu Fuß zurück in die Innenstadt. Um 7.58 Uhr explodiert die erste Bombe am Schalter von Delta Airlines. Es sterben Adelma Patia Ruiz, André Adam, Stephanie Shults, Justin Shults, Bruce Baldwin, Bart Migom, Rosario Valke, Jennifer Scintu Waetzmann, Elita Weah, Sascha Pinczowski, Alexander Pinczowski. Elf Sekunden später am Schalter von Brussels Airlines die zweite Explosion: Sie tötet Berit Viktorsson, Nic Coopman, Fabienne Vansteenkiste, Jingquan Deng, Gail Minglana Martinez.
Die zweite Terrorgruppe bestand aus zwei Personen. Sie trugen Rucksäcke mit Nagelbomben. Beide Männer wollten mit der Linie 5 zur Station Maelbeek fahren und sich dort in die Luft sprengen. Einer fuhr jedoch irrtümlicherweise zunächst in die falsche Richtung, er stieg um, zündete seinen Sprengsatz jedoch nicht, aus „Gewissensbissen“, wie er aussagte. Der andere Täter riss dagegen 16 Menschen mit in den Tod, gut eine Stunde nach den Explosionen am Flughafen. Um 9.11 Uhr detonierte die Bombe an der U-Bahn Maelbeek, die Toten tragen die Namen My Altegrim, Aline Bastin, Yves Cibuabua, Mélanie Defize, Olivier Delespesse, David Dixon, Sabrina Esmael Fazal, Raghavendran Ganeshan, Léopold Hecht, Loubna Lafquiri, Gilles Laurent, Marie Lecaille, Janina Panasewicz, Patricia Rizzo, Lauriane Visart und Johan Van Steen.
Vier der zehn Angeklagten haben in Syrien für den IS gekämpft, die Terroristen des Metro-Attentats wurden offenbar von der Terrororganisation gezielt nach Europa zurückgeschickt, um dort Anschläge zu begehen. Sie mischten sich im September 2015 unter Migranten und gelangten, als Flüchtlinge getarnt, über Griechenland nach Deutschland. Der IS reklamierte die Anschläge in Paris und Brüssel für sich.
Hat Belgien aus den verheerenden Selbstmordanschlägen vom 22. März 2016 gelernt? Im Prinzip ja, lautet die zynische Antwort, wenn nun bis voraussichtlich Mitte diesen Jahres der Prozess die belgische Öffentlichkeit in Atem halten wird. Die meisten der Mörder stammten aus Brüssel. Polizei und Geheimdienste wussten, dass manche von ihnen mit dem „Islamischen Staat“ sympathisierten, aber niemand führte die Fäden zusammen. Bei einem Gefängnisaufenthalt wurde beispielsweise einer der Täter als potenzieller Islamist erkannt und in eine nationale Datenbank für potenziell gewaltbereite Extremisten aufgenommen. Gefährder werden nach ihrer Freilassung auf lokaler Ebene vom Staat zweigleisig verfolgt: einerseits von Polizei und Geheimdiensten, andererseits von Sozialarbeitern. Auch auf regionaler Ebene gibt es sozialtherapeutische Betreuung für Gefährder. Alle diese Instanzen kümmerten sich auch um den Terroristen, alle diese Instanzen waren miteinander vernetzt, theoretisch.
Belgische Sicherheitsexperten sagen, offenbar habe die Aufmerksamkeit im Sicherheitsapparat nachgelassen. Nur noch rund hundert „potenziell gewalttätige Extremisten“ sind in der nationalen Datei festgehalten, nur Einzelpersonen, Hinweise auf terroristische Gruppierungen gibt es offenbar nicht. Warum lassen sich islamische junge Männer nicht in die Gesellschaft integrieren? Woher kommt dieser Hass auf den belgischen Staat?
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