Das Europäische Parlament hat über zehn Rechtsakte abgestimmt, die insgesamt mehr als 900 Seiten lang sind und zusammen das Gemeinsame Europäische Asylsystem bilden (GEAS). Vier Akte und zwei Ergänzungen machen den politischen Kern der Reform aus, um den jahrelang gerungen worden ist. Die Screening-Verordnung legt fest, wie künftig alle Drittstaatsangehörigen ohne Einreiseberechtigung an den EU-Grenzen registriert werden müssen. Die Asylverfahrensverordnung definiert das neue Schnellverfahren an der Grenze, dem sich Personen mit geringer Anerkennungswahrscheinlichkeit unterziehen müssen. Sie regelt auch, unter welchen Umständen Asylanträge abgelehnt und Bewerber in sichere Drittstaaten zurückgeführt werden dürfen.
Die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung ersetzt die bisherige Dublin-Verordnung. Sie beschreibt den neuen Solidaritätsmechanismus, um Staaten in Drucksituationen zu entlasten. Wenn es zu einer krisenhaften Zuspitzung kommt, werden die Regeln gemäß der neuen Krisenverordnung verschärft. Die vier anderen Rechtstexte sind eher technischer Natur. Mit der Eurodac-Verordnung wird die Datenerfassung von Asylbewerbern erweitert. Die Aufnahmerichtlinie schreibt Mindeststandards für Aufnahmebedingungen fest. Aus der Anerkennungsverordnung geht hervor, welche Kriterien Asylsuchende erfüllen müssen, um einen Schutzstatus zu erhalten. Eine weitere Verordnung legt den Rahmen für die Neuansiedlung und die humanitäre Aufnahme von Schutzbedürftigen fest. Diese letzten drei Verordnungen wurden zwar schon in der vorigen Legislaturperiode konsentiert, aber nie abgestimmt, weil ein Gesamtpaket geschnürt werden sollte.
Das Ergebnis fiel im Parlament in Brüssel erwartungsgemäß knapp aus. Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale stimmten in großer Zahl für die heiklen Rechtsakte, Links- und Rechtsradikale sowie Grüne stimmten dagegen. Am knappsten war die Mehrheit für die Krisenverordnung mit nur 29 Stimmen in einem Parlament mit 705 Sitzen. Für diesen Rechtsakt votierten auch sechs Abgeordnete der rechtsnationalen Partei Brüder Italiens von Giorgia Meloni. Dagegen lehnten die zwölf Abgeordneten der polnischen Bürgerplattform von Donald Tusk, die zur EVP gehört, alle Rechtsakte ab. Bei den Sozialdemokraten stimmten etwa dreißig Abgeordnete gegen den Kern der Reform, darunter viele Italiener und einige von der deutschen Sozialdemokratie. Die Mitgliedstaaten haben Ende letzten Monats ihre Zustimmung erteilt. Sie haben dann zwei Jahre Zeit, um die wesentlichen Bestimmungen umzusetzen.
Jede Person, die ohne Erlaubnis in das Hoheitsgebiet der EU-Staaten einreist, muss künftig nach einem einheitlichen System registriert werden. Überprüft werden die Identität, die Gesundheit, die Vulnerabilität, und ob eine Gefahr für die Sicherheit besteht. Das betrifft auch Personen, die illegal die Grenze überschritten haben und von Sicherheitskräften aufgegriffen werden. Auch sie gelten rechtlich gesehen als nicht eingereist und müssen in geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden. An der Außengrenze muss das Screening nach 7 Tagen abgeschlossen sein, im Binnenland nach 3 Tagen. Die Mitgliedstaaten müssen einen unabhängigen Mechanismus zur Überwachung der Grundrechte einrichten.
Alle Asylsuchenden aus Ländern mit einer Anerkennungsquote von unter 20 Prozent müssen nach dem Screening ein Schnellverfahren unter haftähnlichen Bedingungen durchlaufen. Das gibt es heute schon an Flughäfen, künftig müssen die Mitgliedstaaten dafür 30.000 Plätze einrichten. Die Anerkennungsquote bemisst sich nach dem Durchschnitt der erstinstanzlichen Entscheidungen in allen Mitgliedstaaten. Zum Beispiel liegt sie derzeit für Albaner, Inder, Tunesier und Kolumbianer unter der Schwelle von 20 Prozent, für Afghanen, Syrer, Türken und Somalier darüber. Asylsuchende aus diesen Ländern dürfen einreisen und ein reguläres Asylverfahren beginnen. Das gilt auch für unbegleitete Minderjährige, gleich welcher Herkunft, solange sie kein Sicherheitsrisiko darstellen. Für Familien mit Kindern gibt es dagegen keine pauschale Ausnahme, wie Deutschland es durchsetzen wollte. Das Grenzverfahren dauert bis zu 12 Wochen. Ist bis dahin keine Entscheidung getroffen, dürfen die Personen ebenfalls einreisen. Wird das Schutzgesuch abgelehnt, müssen die Betroffenen für weitere 12 Wochen in geschlossenen Einrichtungen bleiben. In dieser Zeit sollen sie abgeschoben werden.
Mitgliedstaaten können Asylanträge als unzulässig abweisen, wenn die Antragsteller eine hinreichende Verbindung zu einem sicheren Drittstaat aufweisen. Das gilt insbesondere dann, wenn sich Familienmitglieder in dem Staat aufhalten oder der Antragsteller dort schon einmal länger gelebt hat. Ob allein die Durchreise auf dem Weg nach Europa einen solchen Status begründet, werden Gerichte entscheiden müssen. Ausgeschlossen ist auf jeden Fall das Ruanda-Modell, bei dem Asylbewerber in ein Land gebracht werden dürfen, zu dem sie keinerlei Verbindung aufweisen. Die EU wird eine gemeinsame Liste sicherer Drittstaaten erstellen, die dann für alle Mitgliedstaaten verbindlich ist. Daneben dürfen die Mitgliedstaaten weiterhin eigene sichere Drittstaaten designieren, solange die EU-Kommission dem nicht widerspricht. Sichere Drittstaaten müssen die Grundrechte wirksam schützen, eine soziale Mindestsicherung bieten, sowie Zugang zu Gesundheitsleistungen und Bildung; sie müssen nicht die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert haben. Ein Land kann auch dann als sicher eingestuft werden, wenn der Schutz nicht für alle Personengruppen oder auf dem gesamten Territorium gewährleistet ist.
Bisher schieben die EU-Staaten nur etwa jeden fünften abgelehnten Asylbewerber ab. Die EU-Kommission erwartet, dass sich diese Quote mit der neuen Reform in den nächsten fünf Jahren verdoppeln wird. Diese Erwartung beruht zum einen darauf, dass die Herkunftsländer besser mit der EU zusammenarbeiten und weitere Rückführungsabkommen schließen. Als positives Beispiel gilt der Irak, der lange Zeit keine eigenen Staatsangehörigen zurücknahm, inzwischen aber umfassend kooperiert. Zum anderen werden Abschiebungen durch das neue Regelwerk erleichtert. Das gilt in jedem Fall im Grenzrückkehrverfahren – Personen können nicht mehr abtauchen, solange sie in geschlossenen Einrichtungen sind. Sie dürfen zudem abgeschoben werden, bevor sie den Rechtsweg ausgeschöpft haben. Erleichtert werden Abschiebungen aber auch im regulären Asylverfahren, weil künftig mit jedem Ablehnungsbescheid automatisch auch ein Ausreisebescheid ausgestellt werden muss. Bisher sind die Prüfungen des Asylanspruchs und des Aufenthaltsrechts entkoppelt, was mehrfache Anfechtungen ermöglicht und so Verfahren in die Länge zieht. In allen Stufen des Asylverfahrens haben Bewerber Anspruch auf kostenlose Rechtsberatung, in der Berufungsphase auch auf einen individuellen Rechtsbeistand.
Grundsätzlich bleibt es dabei, dass die Ersteinreiseländer für die Prüfung eines Asylgesuchs zuständig sind. Die Zuständigkeitsfrist wird sogar von 12 auf 20 Monate nach der Einreise verlängert, mit Ausnahme von Seenotrettungsfällen. Allerdings sollen die Staaten künftig durch einen verbindlichen Solidaritätsmechanismus entlastet werden, wenn sie unter „Migrationsdruck“ geraten. Darüber entscheidet die EU-Kommission auf der Grundlage eines jährlichen Berichts. Sie benennt auch notwendige Solidarmaßnahmen, um Staaten zu entlasten. Das kann die Übernahme von Asylbewerbern nach einem fixen Schlüssel sein oder ein finanzieller Beitrag, aber auch die logistische Unterstützung durch Grenzbeamte oder ein Beitrag, um Aufnahmekapazitäten in Drittstaaten zu erhöhen. Der Richtwert für den sogenannten Solidaritätspool sind 30.000 Umsiedlungen („relocations“) oder 600 Millionen Euro an finanziellen Kompensationen, also 20.000 Euro pro Asylbewerber, den ein Staat nicht übernimmt. Die Kommission kann bei Bedarf aber auch mehr fordern. Der Wert „alternativer Solidarmaßnahmen“ muss zwischen den Staaten ausgehandelt werden. Wenn Asylbewerber schon in andere Staaten weitergereist sind, erfüllen diese ihre Solidarität dadurch, dass sie diese Anträge bearbeiten, statt weitere Personen aufzunehmen. So sollen die Interessen von Staaten wie Deutschland gewahrt werden, die durch starke Sekundärmigration betroffen sind.
Wenn sich eine Drucksituation zu einer Krise zuspitzt, greifen Ausnahmen und Sonderregelungen. Sie sind in der Krisenverordnung dargelegt, einem völlig neuen Rechtsakt, um den die Staaten lange gerungen haben. Sie gilt, wenn sehr viele Menschen auf einmal in die EU einreisen, bei höherer Gewalt, etwa in einer Pandemie, und bei einer Instrumentalisierung von Migranten, wie sie etwa Belarus und Russland gegen an sie grenzende EU-Staaten eingesetzt haben. Ein Staat könnte eine Instrumentalisierung auch geltend machen, wenn Hilfsorganisationen als „feindliche nichtstaatliche Akteure“ agieren, um die Union zu „destabilisieren“.
Ob ein solcher Fall vorliegt, stellt die EU-Kommission auf Antrag betroffener Staaten fest. Sie legt dann auch fest, welche Ausnahmen der Staat vornehmen darf und welche Solidarbeiträge die anderen Staaten ihm zu leisten haben. Die Mitgliedstaaten können vier Wochen Zeit bekommen, um Asylanträge aufzunehmen und Bewerber zu prüfen. Das Grenzverfahren und das Grenzrückkehrverfahren können um jeweils 6 Wochen verlängert werden. Außerdem können im Fall einer Instrumentalisierung sämtliche Antragsteller in das Grenzverfahren überführt werden, in den anderen Fällen Bewerber mit einer Schutzquote von bis zu 50 Prozent.
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