Wir schreiben den 30. März 2015. Soeben wurde in einer Plenarsitzung des österreichischen Nationalrats die Novellierung des Islamgesetzes 2015 verabschiedet. Mitgestaltet wurde dieses Gesetz maßgeblich von Sebastian Kurz, zum damaligen Zeitpunkt Außenminister und späterem Bundeskanzler der Alpenrepublik. Doch was änderte sich durch die neue Gesetzesnovelle und was versuchte man konkret zu regulieren? 8 Jahre später blickt MENA Research & Study Center auf die Auswirkungen der Gesetzesnovelle und die damit verbundene Vormachtstellung einschlägiger islamischer Netzwerke in der muslimischen Community.
Die Gesetzesnovelle, die knapp 3 Jahre lang vorbereitet wurde hatte zwei wesentliche Kernaspekte zum Ziel: zum einen ein Unterbinden der sogenannten Auslandsfinanzierung und zum Anderen eine Regulierung des Verbreitens der religiösen Lehren in muslimischen Glaubenseinrichtungen. Paragraph 6 der Gesetzesnovelle regelt die Auslandsfinanzierung im Detail wie folgt: „Die Aufbringung der Mittel für die gewöhnliche Tätigkeit zur Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder hat durch die Religionsgesellschaft, die Kultusgemeinden bzw. ihre Mitglieder im Inland zu erfolgen.“
Vor der Gesetzesnovelle wurde Imame der Moscheen aus dem Ausland finanziert. Entweder über die jeweiligen Entsendungsstaaten selbst, oder aber durch staatliche Ministerien, wie etwa im Falle der Türkei die Diyanet. Die Diyanet ist die türkische Religionsbehörde mit einem Beamtenapparat von mehr als 100.000 Personen und einem Jahresbudget von knapp 1 Milliarde Euro. Um Imame nach Europa entsenden zu können, richtete die Diyanet Stipendien und Fachkurse ein, zahlte die Gehälter der Zuentsendenden und bot selbigen entsprechende Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Diyanet. So wurden Imame für 4 – 5 Jahreszyklen entsandt und nach ihrer Rückkehr in die Türkei als Ausbildner für die nächste Generation an Imamen herangezogen. Personen, die sich im Rahmen ihrer Entsendung entsprechend bewiesen hatten, bekamen die Möglichkeit als Religionsattachés erneut entsandt zu werden, mit dem Vorteil bereits mit dem Land, der Gesetzgebung vor Ort, aber auch der lokalen Community vertraut zu sein. Für die Diyanet stellen vor allem die Religionsattachés bis heute ein wesentliches Bindeglied zwischen der Community in Europa und der Zentrale in Ankara dar. Auch die Wege in die türkische Staatsspitze sind entsprechend kurz, da die Diyanet direkt dem türkischen Präsidenten Erdogan unterstellt ist. Mit der Gesetzesnovelle 2015 war es der Diyanet von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich eigene Imame auf Entsendungsbasis abzustellen. Durch die fehlenden finanziellen Zuschüsse der Religionsbehörde viel die Attraktivität für junge Theologiestudenten weg und es entstand rasch ein Engpass an Imamen in den mehr als 400 Moscheen und Glaubenseinrichtungen in Österreich. Gleichzeitig wurden dem Diyanet – Ableger ATIB in Österreich, welcher vor der Gesetzesnovelle mit Abstand die meisten Imame stellte die Hände gebunden. Es entstand ein Machtvakuum innerhalb der muslimischen Community, welches rasch durch eine neue Organisation gefüllt wurde – den Netzwerken der Milli Görüs.
Bei der Milli Görüs handelt es sich um eine aus der Türkei stammende konservative und länderübergreifende Bewegung, die vor der Machtübernahme durch Erdogan in der Türkei selbst auf Grund ihrer islamistischen Tendenzen verboten war. Unter der Schirmherrschaft Erdogans formten sich die Netzwerke der Milli Görüs Bewegung neu und erstarkten durch die Ernennung von Selim Argun, dem Vizepräsidenten der Diyanet zu neuem Einfluss. Argun, ein bekennender Milli Görüs Anhänger erkannte rasch das Potential der Bewegung vor allem in der europäischen Diaspora. Eines jener Länder, welches rasch in den Fokus der politischen Ambitionen der Türkei rückte war, auf Grund der gesetzlichen Rahmenbedingungen eines Islamgesetzes, Österreich. Die bestehende Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich, kurz auch IGGiÖ genannt, wurde durch die Gesetzesnovelle in den Status einer juristischen Person öffEntlichen Rechts gehoben. Mit dem Islamgesetz wurde die IGGiÖ alleinig mit Rechten und Pflichten ausgestattet, welche das Zusammenleben der Muslime in Österreich orchestrieren sollen. Diese sind im Paragraph 7 des Islamgesetzes wie folgt geregelt: der IGGiÖ obliegen insbesondere:
- die Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder, soweit sie über den Wirkungsbereich einer Kultusgemeinde hinausreichen; sie ist religionsgesellschaftliche Oberbehörde,
- die Vorlage der Verfassung der Religionsgesellschaft und von Statuten der Kultusgemeinden, deren Änderungen sowie Änderungen in der Zusammensetzung der Organe an den Bundeskanzler,
- die Vorlage von nach innerreligionsgesellschaftlichem Recht mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Einrichtungen für die Erlangung der Rechtspersönlichkeit auch für den staatlichen Bereich, deren vertretungsbefugten Organe und Organwalter sowie deren Änderungen an den Bundeskanzler,
- die Vorlage der Aufzeichnungen über die Rechnungslegung, insbesondere der Rechnungsabschlüsse und diesbezüglichen sonstigen Finanzunterlagen
- das Führen einer Aufstellung aller ihr zugehörigen Einrichtungen und aller ihrer Funktionsträger und -trägerinnen, einschließlich religiöser Funktionsträger und -trägerinnen. Religiöse Funktionsträger und -trägerinnen sind nur soweit erfasst, als ihnen die Verbreitung der religiösen Lehre der Religionsgesellschaft zurechenbar ist.
Mit anderen Worten – die IGGiÖ wurde durch die Gesetzesnovelle vollumfänglich befugt im Rahmen der geltenden Gesetzgebung in der muslimischen Community zu schalten und zu walten. Unter dem damaligen IGGiÖ Präsidenten Fuat Sanac, ebenfalls einem Milli Görüs Sympathisanten wurde das Islamgesetz verhandelt und verabschiedet. Somit waren den Interessen der Milli Görüs Netzwerke Tür und Tor geöffnet.
Der jetzige IGGiÖ Vorsitzende Ümit Vural wurde bereits 2013 in die Planungen mit eingebunden. Mittlerweile hat die Milli Görüs die ATIB als stärkste Fraktion der türkischen Community in Österreich längst abgelöst. Vural, der sich nach außen als weltoffen und angepasst präsentiert, handelt bei weitem nicht so unabhängig, wie er das gerne darstellt. Mehrfach wurde ihm vorgeworfen genaue Vorgaben aus Köln, wo die Milli Görüs ihren Europasitz betreibt zu befolgen. Auch bei der Abwahl seines Vorgängers Ibrahim Olgun wurde Vural von keinem geringeren als Abdi Tasdögen, dem Milli Görüs Vorsitzenden für Österreich unterstützt.
Ganze 8 Jahre nach der Gesetzesnovellenverabschiedung im Jahr 2015 muss sich Österreich eingestehen, dass man die Auslandsfinanzierung zwar unterbinden konnte, die Lücke die dadurch entstand jedoch nicht durch genaue Regeln und Zusammenarbeit mit der muslimischen Community selber befüllen konnte, sondern sich nun einem Netzwerk gegenübersieht, welches unkonventioneller und fasettenreicher aggiert, als die mittlerweile zahnlose und staatliche ATIB.
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