Es war die niedrigste Wahlbeteiligung seit der Gründung der Islamischen Republik vor 45 Jahren: Die Nachrichtenagentur Fars bezifferte sie auf 40,6 Prozent – und damit zwei Prozentpunkte niedriger als der bisherige Tiefstand vor vier Jahren. Andere Zahlen wurden am Wahltag nicht veröffentlicht. Für die Hauptstadt Teheran gab die staatliche Nachrichtenagentur „Mehr“ eine Beteiligung von 24 Prozent bekannt. Die Zahlen schließen allerdings die ungültigen Stimmen mit ein, die diesmal offenbar besonders zahlreich waren.
Ayatollah Khomeini, der erste Oberste Führer, ließ seine Gegner zwar mit ähnlicher Brutalität verfolgen wie seine Erben, die heute an der Macht sind. Trotzdem wollte er seine Islamische Republik mit Wahlen legitimiert wissen. Davon war am Wahltag keine Rede mehr sein. Selbst in den regimetreuen Medien spielte die Parlamentswahl keine große Rolle. Der Fokus lag, wie immer in den vergangenen Monaten, auf dem Krieg im Gazastreifen.
Selbst der amtierende Präsident Raisi flog gleich nach der Stimmabgabe zu einem Gipfel der Gas exportierenden Staaten in Algerien – und das, obwohl er selbst sich um einen Sitz im Expertenrat bewarb. In diesen Zeiten geht die Außenpolitik offenbar vor, immerhin befindet sich Iran seit dem 7. Oktober in einem Schattenkrieg mit Israel und den Vereinigten Staaten. Auch wenn das Regime die verbündeten Milizen im Irak zuletzt anwies, die Angriffe auf US-Einrichtungen einzustellen.
Was in der Region passiert, dürfte die Mullahs derzeit um einiges nervöser machen als das Ergebnis der Parlamentswahl. Legitimität durch Urnengänge? Damit ist es spätestens seit den Protesten vor anderthalb Jahren vorbei. Die Hardliner geben die Richtung vor. Im Volk glaubt kaum noch jemand an Wandel durch Wahlen, an Reformen, solange die Kleriker regieren. Denen dürfte klar sein, dass sie in Gegnerschaft zu ihrem Volk regieren.
Das Regime gab sich daher keine große Mühe, die niedrige Wahlbeteiligung zu entschuldigen. Sie sei ein Erfolg, hieß es, und eine Niederlage jener, die zum Boykott aufgerufen hätten. Währenddessen meldeten die Nachrichtenagenturen, die Auszählung sei im Gange, nach und nach werde klar, wer gewonnen hat. Das löste wenig Spannung aus. Interessanter war die Nachricht, dass selbst die Gewinner schlecht abschnitten. In vielen Provinzen war nur eine Option populär der ungültige Stimmzettel.
Bilder und Augenzeugenberichte von leeren Wahllokalen lassen vermuten, dass die tatsächliche Zahl noch niedriger ausfiel. Auch die im Ausland ansässige Opposition geht davon aus. Der „Nationale Widerstandsrat“ teilte mit, man habe eine einstellige Beteiligung errechnet.
Wahlanalysen in Teheran haben gezeigt, dass in der Hauptstadt mehr ungültige Stimmen abgegeben worden seien als Stimmen für den erstplatzierten Kandidaten. Offenbar hätten vor allem jene ungültig gestimmt, die sich aus Sorge vor Nachteilen nicht getraut hätten fernzubleiben. In der Stadt Yazd gab es mehr ungültige Stimmen als Stimmen für den Zweitplatzierten. Viele Oppositionelle zweifeln grundsätzlich an der Verlässlichkeit der Zahlen. Unabhängige Wahlbeobachter und Umfrageinstitute gibt es in Iran nicht. In ländlichen Regionen ist die Wahlbeteiligung traditionell höher, weil es dort häufig darum geht, welche einflussreichen Familien staatliche Projekte in die Provinz bringen können.
Für die Mullahs sind selbst ihre eigenen Zahlen keine guten Nachrichten. Bei den vorherigen Wahlen vor vier Jahren konnten sie noch der Pandemie die Schuld an der niedrigen Beteiligung geben. Diesmal war es mit einer plausiblen Erklärung schwieriger. Die Führung warb für die Wahlen deswegen teils mit Bitten, teils mit Versprechen, wie jenem, wonach Polizeibeamte, die wählen gingen, vier Tage Sonderurlaub bekommen sollen. Daneben versuchte das Regime, die Bevölkerung einzuschüchtern. Dutzende Menschen, die zum Boykott aufgerufen haben sollen, wurden verhaftet. Schon bei der vorigen Parlamentswahl 2020 erreichte die Beteiligung mit knapp 43 Prozent einen historischen Tiefpunkt. Auch damals war die Bevölkerung erbost über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten und über den ungesühnten Abschuss eines Zivilflugzeugs durch die Revolutionsgarde. Bei der Präsidentenwahl von 2021 wurden dann alle ernst zu nehmenden Konkurrenten von Khameneis Wunschkandidaten Ebrahim Raisi disqualifiziert. Schon das war ein Hinweis darauf, dass der Revolutionsführer die Auswahl seines Nachfolgers nicht dem Zufall überlassen wollte und dafür die weitere Beschädigung seines Ansehens in Kauf nahm.
Präsident Ebrahim Raisi bemühte sich, die Abstimmung als Erfolg zu verkaufen. „Jene, die unserem geliebten Land Böses wünschen, haben alles in ihrer Macht Stehende getan, um unsere Wahl am 1. März glanzlos erscheinen zu lassen“, verkündete er. Die Menschen seien dennoch wählen gegangen und hätten die „globale Arroganz“, gemeint ist der Einfluss der USA, zurückgewiesen.
Wie in einer Diktatur üblich, riefen die staatlich kontrollierten Medien Raisi zum großen Wahlsieger aus. Er hatte erneut für den Expertenrat kandidiert, dem er seit 2007 angehört. Das Klerikergremium hat offiziell die Aufgabe, nach dem Tod des Obersten Führers Ali Khamenei dessen Nachfolger zu bestimmen. Noch nie sei ein Kandidat mit einer so hohen Mehrheit in den Expertenrat gewählt worden wie jetzt Raisi, jubelten sie. In Wirklichkeit waren alle Gegenkandidaten Raisis zunächst disqualifiziert worden. Um den Schein zu wahren, wurde später ein unbekannter Kandidat aus einem anderen Wahlbezirk nachnominiert, der von sich selbst sagte, „ich trete nicht an, um Stimmen zu bekommen, sondern um Begeisterung für die Wahlen zu entfachen“. Er sagte auch, er habe mit seiner Kandidatur seine „Pflicht“ getan. Raisi gilt als möglicher Anwärter auf die Nachfolge Khameneis.
Auch Parlamentssprecher Mohammad Bagher Ghalibaf pries die angeblich „breite Wahlbeteiligung“. Die Iraner hätten sich von der „kognitiven Kriegsführung des Feindes zur Reduzierung der Beteiligung“ nicht beeindrucken lassen. Ghalibaf zählte allerdings zu den größten Verlierern der Wahl, auch wenn er wieder ins Parlament einzieht. Da er zu den loyalsten Schützlingen Khameneis gehört, war vorab erwartet worden, dass er das Amt noch einmal bekleiden würde. Nach seinem schlechten Abschneiden sind seine Chancen gesunken. Der Posten des Parlamentssprechers ist bedeutsam, weil dieser automatisch auch in anderen Gremien wie dem Nationalen Sicherheitsrat und dem Wirtschaftskoordinationsrat vertreten ist. Ghalibaf war früher Chef der Luftwaffe der Revolutionsgarde. Er steht beispielhaft für den großen Einfluss der Garde im Parlament, der den der Kleriker inzwischen übersteigt. Der bisherige Parlamentssprecher wird zugleich mit zahlreichen Korruptionsskandalen in Verbindung gebracht. Zuletzt berichteten Oppositionsmedien über Bemühungen seines Sohnes, in Kanada eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Ghalibafs schlechtes Abschneiden war auch darauf zurückzuführen, dass noch radikalere Hardliner ihm den Rang abliefen. Den höchsten Stimmenanteil in Teheran bekam ein Kandidat, der dem früheren Präsidenten Hassan Rouhani vorwarf, mit Amerika bei der Tötung des Quds-Kommandeurs Qasem Soleimani zusammengearbeitet zu haben. Die antiwestliche Stimmung dürfte im neuen Parlament noch mehr die Oberhand gewinnen.
Zu den prominentesten Nichtwählern zählte der frühere Präsident Mohammad Khatami, der erstmals bei einer Abstimmung fehlte. Er ist bis heute die wichtigste Symbolfigur der sogenannten Reformer. Für seinen Wahlboykott wurde er von der Nachrichtenagentur Tasnim, die der Revolutionsgarde nahesteht, scharf kritisiert. Khatami habe damit seinen Ruf irreparabel beschädigt, schrieb die sie.
Auch Ahmad Khomeini, der Urenkel des Republikgründers Ruhollah Khomeini, widersetzte sich dem offiziellen Narrativ der angeblich erfolgreichen Wahl. In einem Wahllokal sagte er vor Journalisten, er könne unter seinen Freunden und Altersgenossen keine Begeisterung für die Wahlen und keine Hoffnung auf Veränderung erkennen. Das liege auch daran, dass sich frühere Hoffnungen auf Veränderungen nicht erfüllt hätten. Selbst die Familie des ersten Revolutionsführers gehört seit Jahren zu den prominentesten Kritikern des Amtsinhabers. Die Khomeinis haben sich offen auf die Seite der „Reformer“ gestellt. Ahmads Vater Hassan Khomeini war daraufhin 2016 als Kandidat für den Expertenrat disqualifiziert worden. Seine Möglichkeiten, sich politisch zu betätigen, sind seither begrenzt. Nur einmal im Jahr darf er sich äußern: in einer Rede zum Todestag des Republikgründers.
Namhafte Aktivisten hatten zu einem Boykott der Scheinwahl aufgerufen. Die inhaftierte Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi ließ über ihr Instagram-Konto mitteilen, ein Boykott sei eine „moralische Pflicht“, um die „Illegitimität“ des Regimes zu demonstrieren. Es ist aber keine koordinierte Kampagne der Opposition zu erkennen, die darauf abzielen würde, die Wahlen zu nutzen, um der Protestbewegung neues Leben einzuhauchen.
Im Lager der „Reformer“, die in der Bevölkerung stark an Rückhalt verloren haben, gibt es nur vereinzelte Boykottaufrufe. Ansonsten herrscht Ratlosigkeit. „Wenn sie ernsthaft etwas getan hätten, um der Gesellschaft das Gefühl zu geben, dass das Parlament wichtig ist, würde das helfen“, sagt Abtahi, ein früherer Stellvertreter des Reformpräsidenten Khatami (1997 bis 2005).
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research Center vorbehalten.