Tunesien ist jenes Land, in welchem der Arabische Frühling ausbrach. Aktuell nimmt die öffentliche Unzufriedenheit im Land deutlich zu, auf Grund verschlechteter Lebensumstände. Es gab und gibt bereits etliche Proteste aber eine wesentliche Frage bleibt: wird es wieder zu Ausschreitungen im Land kommen?
Zucker, Kochöl, Reis und sogar Wasser verschwinden aktuell temporär aus den Supermarktregalen in Tunesien. Menschen warten, oftmals stundenlang darauf Lebensmittel kaufen zu können. Mittlerweile werden die Lebensmittel immer häufiger nur mehr portioniert ausgegeben. Sobald die Lebensmittel wieder verfügbar sind, sind sie für viele Menschen unleistbar. Diese Entwicklungen tragen sich bereits seit Wochen in Tunesien zu. Dies führt zu verstärktem öffentlichen Unmut und breitet sich schleichend auf die ganze Region in Nord Afrika aus. Es besteht die konkrete Gefahr einer neuerlichen Flüchtlingswelle. Es kommt immer wieder zu Handgemengen, teilweise auch zu Schlägereien bei den Warteschlangen vor den Lebensmittelgeschäften. In mehrere Teilen des Landes geraten Demonstranten und Sicherheitskräfte immer öfter an einander. In einem Vorort der Hauptstadt Tunis nahm sich ein Lebensmittelhändler kürzlich das Leben, nachdem seine Waagen, die er zum Verkauf seiner Produkte benötigte beschlagnahmt hatte. Diese Verzweiflungstat erinnert an die Selbstverbrennung des tunesischen Lebensmittelhändlers Mohammed Bouazizi aus dem Jahr 2010. Die Tat löste damals landesweite Proteste aus und führte zum Sturz des Landzeitmachthabers Zine El Abidine Ben Ali. Die Proteste in Tunesien griffen in den Folgemonaten auf weite Teile der Region über und mündeten schließlich im Arabischen Frühling.
Nachdem der Premierminister gestürzt und das Parlament aufgelöst wurde, gab sich Präsident Kaïs Saied in den letzten Jahren selbst mehr und mehr Macht. Er argumentierte sein Handeln damit, dass diese Schritte notwenidg wären, um das Land politisch und wirtschafltich zu stabilisieren. Instinktiv reagierte viele Tunesier positiv auf die Handlung des Präsidenten, während westliche Verbündete des Landes die Demokratie in Tunesien gefährdet sahen.
Präsident Saied macht nicht nur einen „spekulierenden Handel“ und Schwarzmarkthändler für sieht auch in der moderat islamischen Ennahda Partei, einem politischen Rivalen des Präsidenten einen Ursprung des Übels. Die Partei streitet diese Vorwürfe ab.
Während die Regierung in Tunis auch den Krieg in der Ukraine für die angespannte Lage im eigenen Land verantwortlich macht, sehen internationale Wirtschaftstreibende ein Versäumnis in der politischen Führung des Landes. Die Unfähigkeit der Regierung einen Langzeitkredit mit dem International Monetary Fund (IMF) verschäfte die Lage zusätzlich.
Aktuell verhandelt die Regierung einen Kredit in der Höhe von 2 – 4 Milliarden Dollar mit dem IMF, um das Budgetdefizit, welches durch die Corona Pandemie und die Auswirkungen des Ukraine Krieges angewachsen ist auszugleichen. Als Gegenleistung muss Tunesien schmerzhafte Reformen durchführen, inklusive einer Verkleinerung des Bereiches für öffentliche Administration, der weltweit zu den größten seiner Art zählt. Dieser Bereich alleine verbaucht knapp ein Drittel des tunesischen Budgets. Darüber hinaus verlangt der IMF, dass Finanzierungen nicht verlängert werden und die Privatisierung von staatlichen Entiteten. Experten rechnen mit einer steigenden Arbeitslosenrate. Laut Berichten der Weltbank liegt diese aktuell bereits bei 18 Prozent.
Der Handelsminister des Landes versprach bereits im September eine Besserung gegen die Lebensmittelknappheit und kündigte die Einfuhr von 20.000 Tonnen Zucker aus Indien an. Die Lieferung sollte rechtzeitig für den Festtag, anlässlich des Geburtstages des Propheten Muhammad eintreffen. Aber in der Nacht vor den Feierlichkeiten bildeten sich Schlangen vor den Supermärkten in der Hoffnung ein Päckchen Zucker zu ergattern, welcher eine wesentliche Zutat für traditionelle Gerichte während den Festtagen darstellt.
Allerdings gehen dem Land nicht nur die Nahrungsmittel aus. Tunesien hinkt auch in der Energieproduktion gegenüber den Nachbarländern Algerien und Libyen hinterher. Das Land ist weitgehend vom Energieimport abhängig. In Anbetracht der langwierigen wirtschaftlichen Probleme auf die das Land zusteuert hat das Land auch limitierte Möglichkeiten sich jene Produkte auf dem internationalen Markt zu sichern, die Tunesien dringend benötigen würde.
Laut der Nationalen Statistikagentur liegt die Inflation des Landes bei über 9 Prozent, die höchste seit drei Jahrzehnten. Die Zentralbank des Landes hob kürzlich Bankgebühren und Bearbeitungsgebühren an, was es der Bevölkerung noch schwieriger macht einen Kredit zu bekommen.
In einem Vorort von Tunis versammelten sich im September hunderte Demonstranten auf den Straßen und demonstrierten gegen die schlechten Lebensbedingungen im Land. Dabei blockierten sie eine Hauptverkehrsader der Hauptstadt und zündeten Reifen an, woraufhin den Polizei mit Tränengas gegen die Demonstranten vorging. „Arbeit, Freiheit, Würde“ skandierten die Demonstranten in Anlehnung an die Protestrufe der Revolution im Jahre 2010 / 2011.
Die Aussichten auf eine Zukunft ohne Perspektive wollen eine steigende Zahl an Tunesiern nicht ertragen und riskieren vermehrt die Überfahrt über das Mittelmeer in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Das „Tunisian Forum for Economic and Social Rights“, ein NGO, welche die Migrationsbewegungen beobachtet, berichtete von zumindest 507 Tunesiern, die im vergangenen Jahr bei der Überfahrt ums Leben kamen, oder als vermisst gemeldet wurden.
Laut der Tunesischen Nationalgarde wurden 1500 Überfahrtsversuche durch illegale Schleppernetzwerke nach Italien im Zeitraum zwischen Jänner und September 2022 registriert. Dabei sollen etwa 2500 Kinder, mitsamt deren Familien involviert gewesen sein.
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