Wer ist Diyanet
Diyanet (vollständiger Name Diyanet İşleri Başkanlığı) ist das offizielle türkische Staatsministerium für religiöse Angelegenheiten mit Sitz in Ankara. Es wurde 1924 im Rahmen der Errichtung der Türkischen Republik gegründet. Die Hauptaufgabe von Diyanet sind die Bereitstellung öffentlicher Gottesdienste für die türkische Bevölkerung, einschließlich der Verwaltung von Moscheen und der Auswahl und Bezahlung von Imamen. Diyanet orientiert sich ausschließlich am sunnitischen Islam, da dieser die Hauptreligion in der Türkei ist. Aleviten und andere religiöse Minderheiten stehen nicht im Fokus der Organisation. Als Reaktion auf die steigende Zahl türkischer Gastarbeiter in Europa gründete Diyanet in den 1970er und frühen 1980er Jahren Niederlassungen in vielen westlichen Ländern, um die religiösen Bedürfnisse der türkischen Minderheiten in diesen Ländern zu bedienen.
Die ursprüngliche Funktion von Diyanet bestand darin, religiöse Angelegenheiten unter staatliche Kontrolle zu bringen, mit dem ultimativen Ziel, die säkulare Ordnung des türkischen Staates zu schützen und die Einmischung der Religion in Staatsangelegenheiten und Politik zu verhindern.[1] Diyanet kann daher historisch als eine Kerninstitution des kemalistischen säkularen Systems in der Türkei angesehen werden.[2]
Dieser ideologische Zweck hat sich jedoch seit der Machtübernahme der islamischen AKP-Partei im Jahr 2002 drastisch geändert.
- Das Budget von Diyanet wurde massiv erweitert,
- religiöse Positionen weitgehend in Richtung konservativer und teilweise fundamentalistischer Ansichten modifiziert,
- die Veröffentlichung von Fatwas (maßgebliche Rechtsgutachten zur islamischen Lebensweise) und
- die Ausstellung von Halal-Zertifikaten für Lebensmittel wurde eingeführt,
- ein 24-Stunden-Fernsehsender namens Diyanet TV wurde eingerichtet[3],
- die Koranerziehung wurde auf das frühe Kinderalter ausgedehnt (religiöse Kindergärten wurden legalisiert),
- ein gross angelegtes Bauprogramm für Moscheen wurde gestartet, und
- gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass das Netzwerk von Diyanet-Filialen außerhalb der Türkei für explizite politische Ziele der AKP-Partei instrumentalisiert werden, z.B. Spionage der türkischen Opposition im Ausland oder Förderung des Verfassungsreferendums 2017 unter türkischen Gemeinden.[4]
Daher kann die Diyanet-Administration heute als mächtiger strategischer Apparat der regierenden AKP-Partei angesehen werden, der die besondere Ideologie des Regimes und seine religiöse und politische Agenda im In- und Ausland durchsetzt.
Das aufgestockte Budget von Diyanet
Mit dem Aufstieg der AKP wurde die Verwaltungskapazität von Diyanet enorm gestärkt. Das Budget hat sich seit 2006 vervierfacht und erreicht ca. 6,37 Milliarden Lira (1,83 Milliarden Euro). Der Anteil an den Staatsausgaben ist um 30 % – 50 % gestiegen, sein Personalbestand ist im gleichen Zeitraum um 50 % auf ca. 150.000 Mitarbeiter angewachsen.
Das Budget von Diyanet wird mit 6,8 Milliarden Lira angegeben, was mehr ist als das Budget von elf Ministerien, darunter das Wirtschafts-, Tourismus- oder Gesundheitsministerium. Daher kann es als eine der größten staatlichen Behörden der Türkei angesehen werden.
Analysiert man die Budgetentwicklung von Diyanet genauer, wird deutlich, dass der große Aufschwung nach dem Jahr 2010 kam. Damit einher ging ein Wechsel in der Führung der Organisation, da in diesem Jahr ein neuer konservativer Vorsitzender ernannt wurde. Auch Wissenschaftler attestieren dem Jahr 2010 einen Wendepunkt[5]: In den Folgejahren stieg der Anteil von Diyanet an den gesamten Staatsausgaben auf über 1,3 %. Frühere Untersuchungen zu diesem Thema haben ergeben, dass dieser Prozentsatz in der Vergangenheit seit 1951 ziemlich konstant zwischen 0,5 % und 1 % lag.[6]
Jedenfalls deuten die veröffentlichten Finanzdaten eindeutig darauf hin, dass sich Diyanet innerhalb des letzten Jahrzehnts zu einer überdimensionalen Regierungsbehörde entwickelt hat. Dabei sind die steigenden Budgets der angeschlossenen Stiftungen von Diyanet noch gar nicht berücksichtigt.
Konservative islamische Positionen von Diyanet
Die religiöse Orientierung von Diaynet hat sich unter der AKP-Herrschaft allmählich zu sehr konservativen und teilweise fundamentalistischen Ansichten gewendet. Die große Verschiebung fand in diesem Zusammenhang nach 2010 statt. Ali Bardakoğlu, der letzte von einem säkularen Präsidenten ernannte Vorsitzende der Organisation, wurde 2010 entlassen. Unter Bardakoğlus Führung hielt sich Diyanet weitgehend aus der Politik heraus, es gab sogar einige Liberalisierungsversuche bei religiösen Themen. So wurde beispielsweise versucht, mehr weibliche Teilhabe an Moscheen und am Alltag zu fördern und die Rechte der Frauen behutsam zu verbessern.[7] Bardakoğlu war ein öffentlicher Gegner von Zwangsverheiratungen von Mädchen in jungen Jahren und er zeigte sich sogar beim Internationalen Frauentag. Diyanet erlaubte Invitro-Fertilisation und Antibabypillen, im Jahr 2005 wurden 450 Frauen zu weiblichen Predigern ernannt, die sogenannten „Vaizes“.
Bardakoğlu musste vermutlich 2010 sein Amt niederlegen, weil er sich weigerte, AKP-Initiativen zu unterstützen, Frauen zu empfehlen, den Hijab, das muslimische Kopftuch, zu tragen.[8] Er wurde durch Mehmet Görmez, einen Getreuen, Anhänger des Regimes und angeblich Mitglied von Milli Görüş[9], einer antidemokratischen und islamistischen Bewegung innerhalb der türkisch-muslimischen Gemeinschaft, ersetzt. Unter der Amtszeit von Görmez hat Diyanet eine deutliche konservative Wendung vorgenommen. Während ihre Mitarbeiter einst überwiegend weltliche Beamte waren, wurden zunehmend offen frommere muslimische Angestellte aufgenommen.
Die neue theologische Auffassung von Diyanet lässt sich am besten mit den Fatwas und anderen von der Organisation herausgegebenen Veröffentlichungen veranschaulichen:
- Neujahrsfeiern sollten völlig ignoriert werden. Sie gelten als Teil des heidnischen Lebensstils und führen zu einer „korrupten Kultur“, wie Mehmet Görmez im Dezember 2014 betonte.[10]
- Tätowierungen sind nicht-islamisch und sollten entfernt werden. Wenn sie nicht entfernt werden können, sollte man Buße tun. Die AKP hat konsequenterweise die Kleiderordnung der öffentlichen Schulen geändert und Make-up, Tattoos und Piercings für Schüler verboten.[11]
- Inzest zwischen Vater und Tochter kann unter bestimmten Bedingungen und einem Mindestalter von neun Jahren für das Mädchen geduldet werden.[12] Diese Fatwa wurde als Reaktion auf massive öffentliche Empörung kurz nach ihrer Online-Schaltung von der Diyanet-Website entfernt. Vermutlich aufgrund öffentlichen Drucks wurden die für die Veröffentlichung verantwortlichen Beamten nach der Kontroverse entlassen.[13]
- Verlobte Paare sollten während ihrer Verlobungszeit nicht Händchen halten oder Zeit alleine miteinander verbringen.
- Im Namen der Religion zum Märtyrer zu werden, ist ein erstrebenswertes Ziel. Diese Botschaft – die Verherrlichung des islamischen Märtyrertums – wurde Kindern in einer von Diyanet herausgegebenen Kinderzeitschrift in einer Comicserie vermittelt.[14]
Außerdem gibt es besorgniserregende Berichte, dass Diyanet in der Folge durch salafistisch inspirierte Ideen und damit verbunden durch den sogenannten Naqshbandi-Khalidi-Orden, eine ultrakonservative Bewegung innerhalb des türkisch-sunnitischen Islams und enge Verbindungen zur Milli Görüş und der Muslimbruderschaft, unterwandert wurde.[15]
So enthält das heutige religiöse Verständnis von Diyanet Elemente konservativer, fundamentalistischer und sogar radikaler Ideen. Diese stehen in starkem Widerspruch zu westlichen Werten und Vorstellungen von Menschenrechten.
Das europäische Netzwerk von Diyanet
Wie oben erwähnt, wurden seit den 1970er und 1980er Jahren Niederlassungen von Diyanet in ganz Europa gegründet, um auf die steigende Zahl türkischer Gastarbeiter und ihrer Familien im Ausland zu reagieren. Aufgrund des schnellen Wachstums der muslimisch-türkischen Bevölkerung in den jeweiligen Gastländern hat sich das Netzwerk der Organisation seitdem stetig gefestigt.
Diyanet betreibt über 2.000 Moscheen außerhalb der Türkei.[16] Es gibt eine starke institutionelle Positionierung, besonders in den westeuropäischen Ländern, die einen großen Anteil an türkischer Bevölkerung haben.
Das Netzwerk von Diyanet dehnt sich immer noch aus, insbesondere auf dem Westbalkan, in den ehemaligen Ländern des Osmanischen Reiches mit einem hohen Anteil an muslimischer Bevölkerung, wie Mazedonien, Kosovo, Bosnien, Bulgarien oder Albanien. Diyanet versucht, Beziehungen zu muslimischen Einheiten und lokalen Gemeinschaften in dieser Region aufzubauen, in Übereinstimmung mit der neuen allgemeinen Außenpolitik der AKP-Regierung, die darauf abzielt, den türkischen Einfluss offensiv zu erhöhen.[17] Die Aktivitäten von Diyanet umfassen die Bereitstellung von Stipendien, die Organisation von Bildungsprogrammen, die Veröffentlichung von Koran-Büchern und anderen religiösen Schriften in den jeweiligen Sprachen sowie – nicht zu vergessen – den Bau neuer Moscheen.[18]
Die Macht dieses Netzwerks ist beträchtlich. Die Organisation hat eine feste Hierarchie mit klarer Führung. Alle Imame örtlich verbundener Moscheen werden zentral von der türkischen Staatszentrale ernannt und bezahlt. Ihre Arbeit wird von Diyanet-Beamten in Botschaften und Konsulaten überwacht.[19] Die wöchentliche Freitagspredigt (Khutba) wird zentral in Ankara verfasst und an die über 2.000 Moscheen im Ausland ausgeschickt, um die ansässige türkische Bevölkerung „im Griff haben.“
Diese Struktur ist ein mächtiges Werkzeug für das AKP-Regime, das bereits für politische Ziele wie die Förderung der Partei bei den türkischen Minderheiten im Ausland oder das Ausspionieren ihrer Gegner eingesetzt wurde. Die europäische Infrastruktur von Diyanet wurde instrumentalisiert, um Stimmen für die AKP zu gewinnen.
Abgesehen von der Bedrohung durch politischen Missbrauch birgt das europäische Netzwerk von Diyanet entscheidende religiöse und soziale Gefahren: Die allgemeine theologische Vorstellung der Organisation hat sich in Richtung konservativer und sogar fundamentalistischer islamischer Ansichten verschoben. Die mächtige zentralisierte Struktur von Diyanet kann zu einer sukzessiven Infiltration dieser Ideen in die muslimischen europäischen Gemeinschaften und anschließend in die westlichen Gesellschaften insgesamt führen.
ATIB – Niederlassung von Diyanet in Österreich
ATIB wurde 1990 gegründet und ist der mit Abstand größte muslimische Dachverband Österreichs, Träger von mehr als 65 örtlichen Moscheegemeinden und Imamen. Der Verein ist eine direkte Abteilung von Diyanet und eine abhängige Marionette in Bezug auf seine Organisationsstruktur. Gemäß den Statuten von ATIB sieht die wie folgt aus:
- Der Vorsitzende von Diyanet und sein Stellvertreter sind automatisch Ehrenmitglieder des Vereins (Art. 6 Abs. 5)
- der Attaché für religiöse Angelegenheiten der türkischen Botschaft ist automatisch auch Ehrenmitglied des Vereins (gleicher Artikel)
- Der Aufsichtsrat besteht aus denselben drei Personen: dem Vorsitzenden von Diyanet, seinem Stellvertreter und dem Botschaftsattaché für religiöse Angelegenheiten (Art. 13 Abs. 1).
- Im Falle einer Liquidation von ATIB wird sein Vermögen dem Wohltätigkeitsarm von Diyanet, der Diyanet Vakfi Foundation, zugeteilt (Art. 5).
Diese Regeln ermöglichen türkischen Staatsbeamten die volle Kontrolle über den Verband und seine lokalen Tochtergesellschaften, der Einfluss ist ziemlich offensichtlich und nicht einmal verdeckt. ATIB ist auch direkt an Weisungen der türkischen Botschaft in Wien gebunden.
Die AKP-Partei hat bereits viele Male die Infrastruktur von ATIB genutzt, um ihre politischen Ziele zu fördern:
- ATIB-Moscheen und -Gelände wurden wiederholt für Wahlkämpfe der AKP und Auftritte von AKP-Politikern genutzt
- AKP-Flugblätter mit der Aufforderung, bei der Verfassungswahl 2017 mit „Ja“ zu stimmen, wurden offen in Wiener ATIB-Moscheen verteilt
- Augenzeugenberichten zufolge wurden Busse organisiert, um Menschen von ATIB-Standorten zu AKP-freundlichen Demonstrationen zu transportieren, die von UETD (der Lobby- und Propagandagruppe von Präsident Erdoğan in Europa) durchgeführt wurden.
- ATIB-Gemeinden wurden missbraucht, um oppositionelle Gruppen wie die Gülen-Bewegung auszuspionieren, wie durchgesickerte Dokumente der türkischen Botschaft in Österreich eindeutig belegen.[20]
Österreich ist generell ein gutes Beispiel dafür, wie verschiedene ausländische türkische Institutionen miteinander vernetzt sind und im jeweiligen Gastland ein starkes und einflussreiches Netzwerk entstehen lassen:
- Der ehemalige Vorsitzende von ATIB, Fatih Mehmet Karadas, bekleidete gleichzeitig auch das Amt des Attachés für religiöse Angelegenheiten der türkischen Botschaft. So war er gleichzeitig Vorsitzender der österreichischen Diyanet-Abteilung und Mitglied des türkischen Auswärtigen Dienstes. Karadas musste als Strippenzieher einer Spionageaffäre das Land verlassen, da ihm und ATIB vorgeworfen wurde, Gülen-Anhänger in der österreichisch-türkischen Bevölkerung auszuspionieren.[21]
- Die 1979 gegründete IGGIÖ wurde später von ATIB übernommen. Der aktuelle Präsident der IGGIÖ, der 28-jährige Ibrahim Olgun, ist ebenfalls aktives Mitglied der ATIB und gilt als exemplarisch für die junge, bereits AKP-sozialisierte „Generation Erdoğan“, wie es der österreichische Wissenschaftler und Islam-Experte Thomas Schmidinger formuliert .[22]
- Österreichs gegründete Partei „Neues Bündnis Zukunft“ (NBZ), die 2017 erstmals zur Parlamentswahl kandidierte[23], ist ein weiteres Beispiel für das aufstrebende AKP-freundliche Netzwerk. Viele der Gründungsmitglieder von NBZ sollen enge Verbindungen und aktive Mitgliedschaften bei ATIB haben, und ATIB unterstützt die Partei aktiv.
Die AKP-Partei nutzt das lokale Netzwerk nicht nur für politische Zwecke, sondern auch zur Durchsetzung ihrer religiösen und ideologischen Agenda:
- Wie durchgesickerte Dokumente der türkischen Botschaft aufdecken, sollen Imame junge Türken nach „nationalistischen und konservativen“ Werten erziehen, was im Grunde Indoktrination bedeutet.[24]
- Nach einigen Kontroversen lehnte IGGIÖ-Präsident Olgun offiziell die Evolutions-Lehre[25] Charles Darwins ab, offensichtlich um mit Ankara übereinzustimmen. Die türkische Regierung hat ihre Entscheidung veröffentlicht, den Evolutionsunterricht in den Schulen als Teil eines neuen konservativen religiösen Lehrplans einzustellen.
DITIB – Niederlassung von Diyanet in Deutschland
DITIB wurde 1984 gegründet und ist der vermutlich größte türkische Dachverband in Europa, Träger von mehr als 1.000 örtlichen Moscheegemeinden und Imamen. In Deutschland leben zwischen 5,3 und 5,6 Millionen Muslime[26], davon sind etwa 3 Millionen Menschen türkischer Abstammung. Nach eigenen Schätzungen der DITIB werden 70 % der gesamten muslimischen Bevölkerung in Deutschland von der Organisation vertreten.
DITIB ist eine weitere direkte Abteilung von Diyanet in Europa. Wie im Diyanet-Netzwerk üblich, werden die in den Moscheen tätigen Imame direkt von Ankara ernannt und bezahlt. Wöchentliche Freitagspredigten werden in Ankara geschrieben, nach Deutschland geschickt und von den Imamen vorgelesen.
Wie bei der österreichischen Schwester ATIB garantieren die Statuten des Vereins dem türkischen Staat die volle Kontrolle. Für die Vertreter von Diyanet gibt es Privilegien und Sonderrechte in Bezug auf Aufsicht, Führung und Intervention, wie der Deutsche Bundestag feststellte.[27]
Parallelen in wesentlichen Paragraphen der Satzung sind nicht nur zwischen der österreichischen und der deutschen Sparte festzustellen, auch der dänische Diyanet-Zweig beispielsweise verwendet ein vergleichbares Regelwerk, was das Gesamtbild der generellen Abhängigkeit dieses Netzwerks von der türkischen Regierung unterstreicht. Wie in Österreich hat die AKP-Partei bereits die Kapazitäten und Infrastruktur der DITIB genutzt, um ihre Ziele zu fördern:
- Imame haben in DITIB-Moscheen offensiv für das Verfassungsreferendum von Präsident Erdoğan geworben. Beeinflussungsversuche finden oft nicht öffentlich statt, sondern eher diskret, etwa während der Freitagspredigt. Ohne diese Einflüsse wäre die AKP-Partei in Deutschland nicht so mächtig.
- In mindestens zwei dokumentierten Fällen hat die DITIB Busse zu öffentlichen Auftritten von AKP-Politikern im Rahmen türkischer Parlamentswahlen organisiert und AKP-Flyer verteilt.[28]
- Da die Texte der Freitagspredigten von Diyanet und der türkischen Regierung geschrieben werden, gibt es Berichte, dass wöchentliche Predigten genutzt wurden, um gegen die AKP-Opposition zu hetzen.
- Wie in vielen anderen Ländern werden Imame von DITIB-Moscheen derzeit beschuldigt, Mitglieder der Gülen-Bewegung auszuspionieren und Menschen nach Ankara denunziert zu haben, als Reaktion auf Befehle von Diyanet.
- Genaue Hinweise auf DITIB-Spionageaktivitäten werden aus dem deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen gemeldet. Die lokale Regierung hat die Zusammenarbeit mit der DITIB ausgesetzt, nachdem Berichte veröffentlicht wurden, dass DITIB-Imame mutmaßlich fünf Lehrer staatlicher Schulen ausspioniert haben.
Bauaktivitäten von Diyanet
Ein weiterer bedeutender, vielleicht noch nicht so bekannter Aspekt des wachsenden Netzwerks von Diyanet ist das massive Programm zum Bau von Moscheen. Der Bau von Moscheen ist eigentlich keine formelle Aufgabe von Diyanet selbst. In der Türkei sammeln lokale muslimische Organisationen Geld für den Bau von Moscheen, woraufhin Diyanet die Verwaltung übernimmt und Imame ernennt.[29] Diyanets eigener Wohltätigkeitsarm, die Diyanet Vakfi Foundation (TDV), hat jedoch seit der Gründung 1975 weltweit zum Bau von Moscheen beigetragen.
Unter der Herrschaft der AKP-Partei hat die Türkei einen rigorosen Anstieg neuer Moscheen erlebt: Im Jahr 2016 zählte die Türkei insgesamt 87.300 Moscheen, was einer Zunahme von 9.000 Gebäuden oder 10 % gegenüber 2006 entspricht.
Auch international gibt es große Anstrengungen, viele neue Projekte zu realisieren. Die Diyanet-Stiftung hat bisher mehr als 100 Moscheen in 25 Ländern finanziert, viele davon in den letzten Jahren, und es sind mindestens 25 weitere große internationale Projekte in der Pipeline. Zu den Zielländern gehören die Balkanstaaten, Westeuropa, die USA, Zentralasien (Aserbaidschan, Kirgistan und Kasachstan), Dschibuti, Mali, die Philippinen und sogar Haiti. Allein laufende Projekte sollen mindestens 200 Mio. USD betragen.[30]
Neben den Aktivitäten der Diyanet-Stiftung erhalten viele Gemeinden in Europa Hilfe von Diyanet durch die Bereitstellung von Darlehen für Bauinitiativen. Dadurch sind die Diyanet-Organisationen zu den größten Moscheebauern in Europa geworden.
Die meisten neuen Moscheen repräsentieren dieselbe einheitliche Architektur im Sinne eines neo-osmanischen Stils. Laut politischen Beobachtern stehen die Bauaktivitäten von Diyanet im Einklang mit der gesamten Außenpolitik des Regimes: Ziel des Programms ist es, Prestige, Macht und Einfluss auf muslimische Gemeinschaften im Ausland auszuweiten. Die Diplomatie zum Bau von Moscheen ist ein weiteres Instrument der Soft Power für das derzeitige türkische Regime, das das Diyanet-Netzwerk als multifunktionales und multidimensionales Vehikel nutzt.[31]
Diyanet, Imam-Hatip-Schulen und die Maarif-Stiftung: AKP-Ideologie im Klassenzimmer
Bildung kann als eine der wichtigsten Fronten im Kulturkampf zwischen Anhängern des traditionellen Säkularismus und islamistischen Gruppen in der Türkei angesehen werden. 100 türkische Imam- und Predigerschulen, sogenannte Imam-Hatip-Schulen, stehen in diesem Zusammenhang besonders im Rampenlicht.
Imam-Hatip-Schulen sind Einrichtungen der Sekundarstufe und wurden ursprünglich entwickelt, um von der Regierung angestellte Imame auszubilden. Islamisten sehen die Schulen jedoch als nützliches Instrument, um das islamische Bewusstsein der jungen Generation zu stärken, mit dem Ziel eines parallelen Bildungssystems, das der islamistischen Bewegung der Türkei eine Wählerbasis und Arbeitskraft bieten kann.[32] Mit zunehmendem Einfluss islamischer Gruppen sind diese Schulen in den letzten 30 Jahren immer beliebter geworden.
Seit die AKP-Partei 2002 an die Macht kam, wurden Imam-Hatip-Schulen in großem Umfang wiedereröffnet. Aktuell besuchen ca. 800.000 Schüler landesweit rund 1.400 Imam-Hatip-Schulen, was einem Anteil von 11,5 % aller Gymnasiasten im Jahr 2016 entspricht.[33] Diese Zahlen stehen für viel mehr potenzielle Imame und Muezzine, als die Türkei jemals brauchen wird, aber der eigentliche Zweck der Schulen hat sich ohnehin verschoben. Der Trend wird sich voraussichtlich fortsetzen, da Berichten zufolge die Regierung immer wieder versucht, mehr säkulare Schulen in Imam-Hatip-Schulen umzuwandeln.
Der Ausbau des nationalen Netzes von Religionsschulen wird sowohl von der Diaynet-Stiftung TDV als auch – in viel größerem Umfang – von der sogenannten TÜRGEV-Stiftung vorangetrieben, die angeblich unter direkter Kontrolle der Familie Erdoğan als Präsidentensohn Bilal steht Erdoğan ist Mitglied des Stiftungsrates.
Das spektakuläre Comeback der Imam-Hatip-Schulen unter AKP-Herrschaft muss jedoch in eine breitere Perspektive gestellt werden: Die Regierung hat Schritte eingeleitet, die zu einer vollständigen Änderung des Bildungssystems führen:
- Das Mindestalter für den Besuch von Korankursen wurde abgeschafft. Daher ist jetzt sogar Koranunterricht für Kleinkinder erlaubt. 2016 wurde in Kooperation mit dem Diyanet und der Diyanet Foundation der erste Religionskindergarten eröffnet.[34]
- Mädchen dürfen ab zehn Jahren das Kopftuch in der Schule tragen.[35]
- Die Zahl der obligatorischen Koranstunden in öffentlichen Schulen wurde erhöht.
- Kurse in Menschenrechte, Zivilgesellschaft und Demokratie wurden abgeschafft.[36]
- Die Evolutionstheorie von Charles Darwin gehört nicht mehr zum Lehrplan.[37]
- Das Konzept des Dschihad wurde in den Lehrplan aufgenommen und ergänzt den islamischen Rechts- und Religionsunterricht.
- Nach dem Putschversuch von 2016 wurden Berichten zufolge 40.000 Lehrer von ihren Posten entfernt, weil sie angeblich Gülen unterstützten.[38] Es ist nicht schwer zu glauben, dass nicht nur Gülen-Anhänger von der Säuberung betroffen sein könnten, sondern auch säkulare Gegner des Regimes.
Alles in allem haben der offizielle Islam und das Bildungssystem in der Türkei laut Wissenschaftlern monumentale Veränderungen mit weitreichenden Folgen erfahren. Diese Verschiebungen von der Moschee ins Klassenzimmer sollen es Erdoğan und seinem Gefolge ermöglichen, das Weltbild von Generationen von Türken zu prägen.
Der Wiederaufbau des türkischen Bildungssektors hat auch starke Auswirkungen auf Europa. Die Diyanet-Stiftung TDV und viele weitere angeschlossene Organisationen betreiben Imam-Hatip-Schulen, Grundschulen, Kindergärten, Universitäten, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen in einem weltweiten Netzwerk. Insgesamt gibt es bereits etwa 2.000 Schulen im Ausland, die direkt vom türkischen Staat kontrolliert werden.
Die Maarif Vakfi-Stiftung, eine weitere Tochtergesellschaft der Regierung, hat beschlossen, noch viel mehr Bildungseinrichtungen im Ausland zu eröffnen, mit den bestehenden zu kooperieren und eine ganz neue Infrastruktur zu implementieren, die an die jeweiligen Länder und Schulsysteme angepasst ist.[39] Laut Maarif ist sie nach eigenen Angaben weltweit aktiv und bietet eine „visionäre Erziehung nach türkischem Vorbild“ zur Förderung der türkischen Sprache an.[40]
In jedem Fall sollten die Aktivitäten all dieser Stiftungen und die Entwicklung der türkischen Bildungseinrichtungen im Ausland mit größtmöglicher Sorgfalt beobachtet werden. Es besteht die reale Gefahr, dass Europa einer langsam fortschreitenden Islamisierung durch die Hintertür der Schulklassen gegenübersteht, so wie es bereits in der Türkei geschehen ist.
[1] Feyzioğlu, Turhan. (1982): ‘Secularism: cornerstone of the Turkish Revolution’, Turhan Feyzioğlu (ed.) Atatürk’s Way, A Cultural Publication of Otomarsan. İstanbul, S.. 188-216.
[2] Gözaydın, İştar (2009): Diyanet: Türkiye Cumhuriyeti’nde Dinin Tanzimi (Diyanet: Arranging Religion in the Turkish Republic). İstanbul: İletişim Yayınları. Gözaydın 2009, S. 286
[3] https://www.foreignaffairs.com/articles/turkey/2015-05-17/turkey-castsdiyanet
[4] www.hurriyetdailynews.com/diyanet-gathers-intelligence-on-suspected-gulenists-via-imams-in38-countries.aspx?pageID=238&nID=107028&NewsCatID=341
[5] Ahmet Erdi Öztürk (2016): Turkey’s Diyanet under AKP rule: from protector to imposer of state ideology? Southeast European and Black Sea Studies, S. 10.
[6] Gözaydın, İştar: Diyanet: Türkiye Cumhuriyeti’nde Dinin Tanzimi (Diyanet: Arranging Religion in the Turkish Republic). İstanbul: İletişim Yayınları. Gözaydın 2009, S. 224
[7] Thijl Sunier et al.: Diyanet – The Turkish Directorate for Religious Affairs in a changing environment, VU University Amsterdam, Utrecht University, S. 70.
[8] Ahmet Erdi Öztürk: Turkey’s Diyanet under AKP rule: from protector to imposer of state ideology? Southeast European and Black Sea Studies S. 9
[9] https://www.nzz.ch/international/tuerkische-religionsbehoerde-diyanet-abrechnung-mit-guelenld.1308248
[10] http://www.hurriyetdailynews.com/happy-illicit-new-year.aspx?pageID=449&nID=76336&NewsCatID=497
[11] http://www.hurriyetdailynews.com/repent-over-your-tattoos-turkeys-top-religious-bodysays.aspx?pageID=238&nid=76668&NewsCatID=341
[12] http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-religious-body-fires-officials-responsible-forcontroversial-fatwa.aspx?pageID=238&nid=93894&NewsCatID=393
[13] http://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-religious-body-fires-officials-responsible-forcontroversial-fatwa.aspx?pageID=238&nid=93894&NewsCatID=393
[14] http://www.mirror.co.uk/news/world-news/turkish-government-publishes-cartoons-glorifying-7685101
[15] http://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analystarticles/item/463-the-rise-of-diyanet-the-politicization-of-turkey%E2%80%99s-directorate-of-religiousaffairs.html
[16] https://www.theatlantic.com/international/archive/2019/06/turkey-builds-mosques-abroad-global-soft-power/590449/
[17] Ahmet Erdi Öztürk: Delectation or Hegemony: Turkey’s Religious Actors in South Eastern Europe and Central Asia, S. 23.
[18] Kerem Öktem: Global Diyanet and Multiple Networks: Turkey’s New Presence in the Balkans,
Journal of Muslims in Europe, S. 43 ff.
[19] Thil Sunier, Nico Landman: Diyanet. In: Transnational Turkish Islam: Shifting Geographies of Religious Activism and Community Building in Turkey and Europe., S. 46-56.
[20] Peter Pilz: „Sei wachsam, Türke!“ Erdogans Angriff auf Österreich. Der grüne Bericht zu MIT, UETD, ATIB und IGGÖ, S. 21.
[21] https://kurier.at/politik/inland/spitzel-affaere-tuerkischer-diplomat-wird-oesterreich-am-sonntagverlassen/246.054.950
[22] https://kurier.at/politik/inland/erdogans-einfluss-auf-die-iggioe/205.513.257
[23] https://kurier.at/chronik/oesterreich/migrantenpartei-will-ins-parlament/266.062.780
[24] Pilz: S. 22.
[25] https://kurier.at/politik/inland/muslime-chef-olgun-lehnt-nach-protest-aus-der-tuerkei-die-
evolutionstheorie-doch-ab/276.176.396
[26] https://de.wikipedia.org/wiki/Islam_in_Deutschland
[27] https://www.bundestag.de › wd-1-004-15-pdf-data
[28] https://www.welt.de/politik/deutschland/article154689954/So-naehren-Erdogans-PredigerIslamismus-in-Deutschland.html
[29] Thil Sunier, Nico Landman (2015): Diyanet. In: Transnational Turkish Islam: Shifting Geographies of Religious Activism and Community Building in Turkey and Europe., S. 46.
[30] https://www.economist.com/news/europe/21688926-turkey-sponsoring-islam-abroad-extend-itsprestige-and-power-mosqued-objectives
[31] Ebda.
[32] http://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/463-the-rise-of-diyanet-the-politicization-of-turkey’s-directorate-of-religious-affairs.html
[33] http://sgb.meb.gov.tr/www/resmi-istatistikler/icerik/64
[34] https://www.trthaber.com/haber/turkiye/diyanetin-anaokulundaegitim-basliyor-266048.html
[35] https://www.al-monitor.com/originals/2014/09/turkey-headscarves-early-education-allowed.html
[36] https://t24.com.tr/haber/kuran-dersi-6-saate-cikiyor-insan-haklari-dersi-kaldiriliyor,279205
[37] https://www.theguardian.com/world/2017/jun/23/turkish-schools-to-stop-teaching-evolution-official-says
[38] http://www.huffingtonpost.com/entry/turkey-referendum-erdogan_us_58ee2b78e4b0df7e2046ff37
[39] https://www.odatv4.com/guncel/devlet-cemaate-artik-rakip-oldu-1706161200-95957
[40] https://www.dailysabah.com/politics/2017/02/13/maarif-foundation-head-we-aim-to-offer-an-education-that-reflects-turkish-vision-promote-turkish-language
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