Viele Musliminnen in Belgien tragen das traditionelle Kopftuch, den Hijab. Das Bild dort ist ähnlich wie in anderen westeuropäischen Staaten. Den Anstieg der Frauen, die die Kopfbedeckung tragen, hat in den letzten Jahren massiv zugenommen und Kritiker warnen nun, dass dies ein Zeichen für die weitere Ausbreitung des legalistischen Islam, auch besser bekannt als „politischer Islam“ sein könnte.
Es sind Musliminnen, die nie einen Hijab tragen wollen. Sie lehnen es als Ausdruck männlicher Fremdbestimmung ab. Andere wiederum tragen ihn aus freien Stücken, teilweise aus ähnlichen Gründen wie diejenigen, die die Kopfbedeckung ablehnen. Für sie ist es ebenso eine selbstgewählte Entscheidung.
Am 22. März 2016 ereignete sich der Terroranschlag in Brüssel. Vielleicht wären weibliche muslimische Todesopfer, die mit ihrem Leben bezahlen mussten an diesem Tag, noch unter uns, wenn sie ein Kopftuch getragen hätten. Der islamistische Selbstmordattentäter stellte sich in der U-Bahn direkt neben eine Muslimin ohne Hijab, offenbar entsprach die junge Frau seinem Feindbild der westlichen Gesellschaft. 32 Menschen starben bei den Anschlägen in Brüssel, getötet von der derselben Terrorzelle, die vier Monate zuvor in Paris 130 Menschen umgebracht hatte. Verantwortlich sind Männer, aufgewachsen im selben Stadtteil von Brüssel, in Molenbeek. Sie sind nun wegen terroristischen Mordes verurteilt. Eines der finstersten Kapitel des europäischen Terrorismus ist damit juristisch abgeschlossen. Aber welche Lehren daraus zu ziehen sind, bleibt umstritten.
Der Brüsseler Stadtteil, durch die Anschläge von Brüssel und auch Paris zu traurigem Weltruhm gekommen, ist ein buntes, lebenswertes Viertel, in Teilen gentrifiziert. Zwei Drittel der 100.000 Einwohner sind muslimischen Glaubens, die meisten leben rund um das historische Zentrum, das den Charme einer arabischen Kleinstadt versprüht. Trotzdem sind die Konflikte nicht übersehbar.
Einige Monate nun sitzt erstmals eine Muslimin mit Kopftuch an einer leitenden politischen Stelle im Rathaus von Molenbeek. Ihre Berufung war in ganz Belgien begleitet von großem politischen Streit. Mittlerweile drehen sich die Debatten um die Frage: Dürfen in den städtischen Behörden von Molenbeek und anderen islamisch geprägten Vierteln von Brüssel Frauen mit Kopftuch arbeiten? Die einen sagen „Nein“, der Staat würde seine Neutralität in weltanschaulichen Fragen aufgeben und die Unterdrückung von Frauen billigen. „Ja“ sagen die anderen, durch das Verbot werde die muslimische Minderheit diskriminiert, außerdem sei es in vielen Fällen nur so möglich, muslimischen Frauen Jobs zu verschaffen. Der Kompromiss, der sich nun abzeichnet: Das Kopftuch wird erlaubt, wenn die Trägerin in der Behörde keine Führungsposition ausübt und keine Besucher empfängt.
Der Kopftuch-Vorstoß sei ein Versuch von linken Parteien, vor den Wahlen im Juni 2024 Stimmen der muslimischen Gemeinschaft abzugreifen – und grundsätzlich ein Zeichen der schleichenden Kapitulation der liberalen Demokratien in Europa vor dem Herrschaftsanspruch des politischen Islam. Das sagt die Leiterin einer Organisationen, die für einen Islam kämpft, der im Einklang mit den liberalen westlichen Werten lebt. Frauen finden bei ihr Hilfe, die aus der streng islamischen Gesellschaft ausbrechen wollen. Die Leiterin floh Mitte der Neunzigerjahre vor dem dschihadistischen Terror aus Algerien, sie wanderte zunächst nach Kanada aus, 2019 zog sie nach Belgien. Die Frau, Djemila Benhabib, kämpfte gegen die Ernennung einer kopftuchtragenden Wissenschaftlerin als staatliche Kommissarin für Fragen der Gleichberechtigung. Diese Frau galt damals als Musterbeispiel einer selbstbestimmten Muslimin – und trat zurück, weil Vorwürfe auftauchten, sie pflege Verbindungen zur Muslimbruderschaft.
Sie ist in die belgische Hauptstadt gezogen, weil dort die entscheidende Schlacht zwischen dem Islamismus und den Demokratien westlicher Prägung stattfinde. Man mag ihre Warnung für übertrieben halten – aber sie bildet in jedem Fall ein Gegengewicht zur verbreiteten belgischen Neigung, Probleme der Integration zu übergehen. Der belgische Staat holte in den Sechzigerjahren nordafrikanische, vorwiegend marokkanische Arbeitskräfte ins Land. Als erster europäischer Staat erhob Belgien 1974 den Islam in den Rang einer offiziell geförderten Religion. Mit der Betreuung der islamischen Gemeinschaft betraute der belgische Staat Saudi-Arabien, im Gegenzug lieferte das Königreich billiges Erdöl nach Belgien. Es war ein verhängnisvoller Deal. Das Königreich am Golf finanzierte nicht nur prächtige Moscheen, sondern entsandte auch Imame, die einen rigorosen, wahhabitisch-salafistischen Islam predigten. Die Salafisten bildeten eine Allianz mit den politisch agitierenden Muslimbrüdern. Der Frèro-Salafismus fand zunehmend Widerhall unter Muslimen, die unter dem industriellen Niedergang, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung litten. Und die lokalen Politiker suchten den Ausgleich mit den Islamisten, statt sie zurückzudrängen.
Diese Probleme fokussierten sich sich in Molenbeek, früher das industrielle Zentrum des Landes. Mitte der Neunzigerjahre siedelte sich dort der erste dschihadistische Hassprediger an. Sein Wort fiel auf fruchtbaren Boden. Das Viertel in Brüssel war jahrzehntelang ein Zentrum des islamistischen Terrors. Und die muslimische Gemeinde, vom Rest des Landes misstrauisch beäugt, schottete sich noch mehr ab.
Der Islamismus breite sich, bestens finanziert aus dem Ausland, in ganz Belgien auf leisen Sohlen weiter aus, sagt Djemila Benhabib. Sie berichtet von laizistischen muslimischen Lehrerinnen und Lehrern, die von Fundamentalisten gemobbt werden. Der belgische Staat habe keinerlei Kontrolle über den Islam-Unterricht an seinen Schulen. Als entlarvend empfindet sie den zum Teil gewalttätigen Widerstand gegen ein Dekret, demzufolge die Kinder an den Schulen in der Region Wallonie pro Jahr zwei Stunden Sexualkundeunterricht erhalten sollen. Der Protest wird in der Öffentlichkeit getragen von Frauen mit Kopftuch. Aber Djemila will ihren Kampf gegen weibliche Selbstbestimmung, Unterdrückung durch das Patriarchat islamischer Prägung nicht aufgeben. Nur wenn die Frauen ihre Freiheit gewinnen, könne der Islam in Europa heimisch werden. Sie will auch weiterhin in Molenbeek ihren Glaubensschwestern zeigen, dass der Islam im Okzident nur dann eine Zukunft hat, wenn er sich emanzipiert von Denkschulen, die rückwärts gewandt sind und die Gegenwart verneinen.
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