Die Bilder gleichen sich in Deutschland, Frankreich, Österreich oder Skandinavien: Menschen drängen sich vor den türkischen Generalkonsulaten, die Schlangen sind mehrere Hundert Meter lang. Viele nehmen die Reise von mehreren hundert Kilometern auf sich, um in der Heimat oder im Land ihrer Vorfahren ein politisches Zeichen zu setzen.
Auch bei der Stichwahl will Erdogan und seine AKP wieder nichts dem Zufall überlassen – der Wahlkampf 2023 ist trotzdem anders als die Kampagnen bei vorangegangenen Wahlen. In der Türkei wurde es bei der Wahl knapp für den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er landete unterhalb der Schwelle von 50 Prozent und muss sich am kommenden Sonntag einer Stichwahl gegen den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu stellen. Bei den türkischen Staatsbürgern in Europa blieb Erdogans Vorsprung gegenüber der Opposition dagegen groß: Er erhielt in Deutschland etwas mehr als 65 Prozent der abgegebenen Stimmen – allerdings beteiligte sich nur etwas weniger als die Hälfte der 1,5 Millionen Wahlberechtigten an der Wahl. Markanter waren die Zahlen in Österreich: 77 Prozent der Stimmen entfielen auf ihn.
Bisher setzte Erdogan in Europa bei früheren Wahlkämpfen auf den öffentlichkeitswirksamen Knalleffekt: große Hallen in Metropolen, oft mehr als 20.000 fahnenwedelnde Besucher, markige antiwestliche Rhetorik auf der Bühne. Diesmal findet der Kampf um Stimmen eher unter dem Radar statt.
Das hat auch mit einer veränderten Haltung der Behörden zu tun, denn die haben aus den vergangenen hitzigen türkischen Wahlkämpfen gelernt. Sechs Monate vor dem Wahltermin müssen Auftritte von ausländischen Amts- und Mandatsträger in Deutschland behördlich angemeldet sein. 2017 entschied die dortige Regierung, dass Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker aus Nicht-EU-Ländern drei Monate vor Wahlen oder Abstimmungen in ihren jeweiligen Ländern sogar grundsätzlich verboten sind.
Diese Vorgaben werden allerdings mit einer neuen Taktik unterlaufen. Bereits letztes Jahr begann die Mobilisierung der AKP in Westeuropa, weit über 400 AKP-Abgeordnete waren unterwegs gewesen und machten Straßenwahlkampf, gingen von Haustür zu Haustür, ohne große Hallen-Events. Die Adressen für diese Besuche erhielten sie meist von den türkischen Moschee-Gemeinden, die sich wieder frühzeitig anboten, für die nationalistische AKP die Werbetrommel zu aktivieren. Diese zentrale Rolle für den Wahlkampf spielen dabei Verbände wie die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (Ditib) oder die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V. (IGMG) mit ihrem weit verzweigten Netz an Gemeinden in Deutschland. Sie agieren häufig wie AKP-Filialen, als verlängerter Arm des türkischen Staates. Auch zur Stichwahl wurden wieder Bussen von den AKP-Lobbyorganisationen angemietet, um Menschen vor allem in den Moscheegemeinden abzuholen und zu den Konsulaten zu bringen. An Bord herrschte Partystimmung, zwischendurch wird immer wieder darauf hingewiesen, wo denn das Kreuz gemacht werden soll.
Dass Erdogans Beliebtheit in Europa trotz seines autoritären Regierungsstils, trotz Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, einer sich weiter verschlechternden wirtschaftlichen Lage und einer galoppierenden Inflation in der Türkei ungebrochen ist, wirft Fragen nach dem Warum auf. Die meisten Türkeistämmigen seien von den Konsequenzen der türkischen Politik nicht direkt betroffen. „Das Interesse scheint bei Erdogan-Anhängern bei uns tatsächlich größer zu sein, und hier gilt anscheinend vor allem das Credo: in guten wie in schlechten Zeiten.“ Anders könne man sich das Ergebnis in der aktuellen Situation, in der sich die Türkei befände, nicht erklären.
Menschen aus der Türkei leben teilweise seit über 60 Jahren im Ausland – können aber ohne die dortige Staatsbürgerschaft nicht einmal auf kommunaler Ebene mitbestimmen. Menschen aus anderen EU-Ländern, die aus den gleichen Gründen in ein EU-Land gekommen sind, dürfen dagegen wählen. Das ist eine Ungleichbehandlung, die behoben werden müsste.
Es geht also um politische Entrechtung und um das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Angriffe, Alltagsrassismus prägen den Alltag vieler in Europa lebender Türken. Erdogan nutzt das, was die Menschen tagtäglich erleben, um sich als Kümmerer darzustellen. Die europäischen Parteien sind daher herausgefordert, die Menschen bei ihren Bedürfnissen abzuholen und sich ihre Sorgen und Forderungen auf die Fahnen zu schreiben. Hier hat die Politik in Europa sicherlich einiges versäumt. Zum einen haben die Gesellschaften zu wenig dafür getan, dass sich türkische Migrantinnen und Migranten und ihre Nachfahren in der EU zu Hause fühlen können. Zum anderen konnten die Außenstellen von Erdogans Autokratie in den türkischen Moscheen und Kultureinrichtungen zu lange frei walten.
Die deutsche Abgeordnete Serap Güler, deren Eltern als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, sieht noch weitere Probleme. Bei denjenigen in Deutschland, die erneut Erdogan gewählt haben, handele es sich um einen harten Kern. „In absoluten Zahlen sprechen wir hier circa über 490.000 Menschen, das war bei der letzten Wahl genauso. Zufriedenstellen kann uns das definitiv nicht, dass Menschen, die bei uns in Freiheit leben, einen Präsidenten mit autokratischen Zügen unterstützen.“
Man müsse weiterhin für diese Menschen werben, einfach werde das aber nicht. „Ich glaube, den meisten fehlt tatsächlich ein Unrechtsbewusstsein, dass Erdogans Politik Rechte und Freiheiten von Andersdenkenden einschränkt. Wir können hier nur auf politische Aufklärung setzen, werden aber trotzdem einen Großteil der Menschen nicht erreichen“, sagt Güler.
Zudem, so die Analyse vieler Wissenschaftler, könne man die Stimmabgabe der Türkeistämmigen nicht losgelöst betrachten: Es gibt in der gesamten EU einen Rechtsruck und eine Autokratiefreundlichkeit – siehe AfD in Deutschland, FPÖ in Österreich, die Schweden-Demokraten, die Orban-Autokratie in Ungarn.
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