Der türkische Präsident weiss die geopolitischen Veränderungen, von der russischen Invasion in die Ukraine bis hin zu den Veränderungen im Nahen und Mittleren Osten für sich zu nutzen. Mit seinem Kurs zwischen NATO und Putins Russland sowie dem neuen Schmusekurs mit dem syrischen Diktator Assad will er sich nicht nur innenpolitisch als der große Stratege präsentieren.
Im Kalten Krieg war die Westbindung der Türkei selbstverständlich. Heute betreibt die Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan eine Schaukelpolitik zwischen Ost und West, die die NATO immer wieder in Dilemmata stürzt. Das Land ist strategisch zu wichtig, um es den Gegenspielern des Westens zu überlassen: Es stellt die zweitgrößte Armee des Verteidigungsbündnisses, liegt an der Schnittstelle zwischen Europa, Nordafrika, dem Nahen Osten und dem Kaukasus und grenzt über das Schwarze Meer an Russland.
Erdogan weiss die geopolitischen Verwerfungen so geschickt für sich zu nutzen wie kaum ein anderer Politiker und manövriert zwischen NATO und Russland. Moskaus Krieg in der Ukraine hat diese Entwicklung befeuert. Kritiker bemängeln, dass der türkische Präsident oft agiert, ohne westliche Interessen zu berücksichtigen – sei es in der Blockade der Norderweiterung der NATO, dem Erwerb russischer Waffensysteme oder seinem neusten Coup: der Aussöhnung mit dem syrischen Diktator und seinem bisherigen Erzfeind Baschar al-Assad.
Zwölf Jahre lang waren Erdogan und Assad Feinde. Erdogan nannte Assad einen „Mörder“ und „Terroristen“, der keinen Platz in den Verhandlungen über die syrische Nachkriegsordnung habe. Assad bezeichnete Erdogan als „Dieb“, der fremdes Land stehle, die syrische Regierung beschuldigte die Türkei, Terroristen zu unterstützen, Erdogan wiederum verglich Assad mit Hitler.
Doch nun möchten die beiden plötzlich einen gemeinsamen Gipfel abhalten – und das sogar noch vor den Wahlen in der Türkei, die aller Voraussicht nach am 14. Mai stattfinden dürften. Eine drastische Kehrtwende türkischer Außenpolitik – mit dem Segen Putins und gegen amerikanische Interessen.
Der Zeitpunkt hängt wohl sehr stark mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Russland wolle den Krieg in Syrien zu Ende bringen. Wenn die bisherigen Gegenspieler Erdogan und Assad kooperieren, minimiert sich für den russischen Präsidenten das Konfliktpotenzial vor Ort. Putin kann dann als Gewinner hervorgehen, denn dann kann er Truppen und Streitkräfte aus Syrien abziehen und sich auf die Ukraine konzentrieren.
Erdogan spricht von „Schritten“ zu einem „trilateralen Bündnis aus Syrien, der Türkei und Russland“. Eine Annäherung Ankaras an Assad? Dies wäre eine radikale politische Kehrtwende mit noch unabsehbaren Folgen, weit über die Türkei hinaus. Die ersten Schritte sind erfolgt: Kurz vor dem Jahreswechsel trafen sich in Moskau auf Einladung Russlands die Verteidigungsminister und die Geheimdienstchefs der drei Länder. „Das war der erste Kontakt auf Ministerebene seit 2011“, schreibt ein langjähriger politischer Kommentator in Ankara. Erdogan werde bald „in der Umayyaden-Moschee in Damaskus beten können“, aber nicht, wie zu Kriegsbeginn erhofft, als Gast siegreicher Widerstandskämpfer, „sondern als Gast von Assad“.
Die nächsten Schritte hat Erdogan bereits vor türkischen Journalisten aufgelistet: erst ein Außenminister-Dreiertreffen, „dann sollten wir als Führungskräfte zusammenkommen“. Also Erdogan, Putin und Assad. In türkischen Medien war schon von einem möglichen Termin für die Außenminister Anfang Februar zu lesen. „Diese Annäherung beunruhigt alle Syrer in der Türkei, vor allem die Regimegegner und diejenigen, die von den syrischen Sicherheitskräften gesucht werden. Ihre Angst ausgeliefert zu werden, wächst von Tag zu Tag“, sagt ein syrischer Journalist im Exil in Istanbul.
Erdogan, Putin und Assad eint ein Ziel, hinter dem verschiedene Motivationen stehen: Sie wollen die kurdische autonome Verwaltung im Nordosten Syriens schwächen. Sie ist dort im Zuge des syrischen Bürgerkriegs entstanden, kurdische Gruppen waren außerdem wichtige Verbündete der USA im Kampf gegen die Terrormiliz IS. Noch immer sind rund 800 amerikanische Soldaten vor Ort, um ein Wiedererstarken der Islamisten zu verhindern, in Zusammenarbeit mit den kurdischen Behörden.
Erdogan sieht einige Milizen innerhalb der kurdischen Struktur als Terrororganisation an, etwa die YPG, den syrischen Ableger der PKK.Letztere steht auch in der EU und den USA auf der Terrorliste. Erdogan will die kurdischen Kämpfer – eine Definition, die er weit auslegt – von der türkischen Grenze zurückdrängen. Nach einer Einigung mit Assad könnte er seinen Wählern zudem ankündigen, syrische Flüchtlinge aus der Türkei zurückzuschicken. Ihre Anwesenheit ruft zunehmend Unmut in der Bevölkerung hervor.
Kritik der größten türkischen Oppositionspartei CHP muss Erdogan für seinen abrupten Politikwechsel nicht fürchten. Im Gegenteil. CHP-Chef Kemal Kiliçdarolu, erst gestern von der Opposition zum Gegenkandidaten bei den Präsidentschaftswahlen nominiert, preschte in der heiklen Flüchtlingsfrage sogar vor. Sollte die Opposition die anstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen gewinnen, sagte dieser bereits vor einem halben Jahr, dann werde die Rückkehr der Flüchtlinge „in zwei Jahren abgeschlossen sein“. EU-Mittel wolle er dazu nutzen, für einen „geordneten Prozess“, die Syrer würden dann „mit Pauken und Trompeten“ gehen. Wirtschaftskrise und Inflation haben das gesellschaftliche Klima in der Türkei verändert. Nachdem die Toleranz lange groß war, schüren einzelne Politiker nun gezielt Emotionen gegen die Syrer.
Damaskus hat schon seinen Preis für einen Deal genannt: den Rückzug der türkischen Truppen, die seit 2016 einen Teil Nordsyriens besetzen, und ein Ende der Unterstützung syrischer Rebellen. Ankara nennt die besetzten Gebiete „Sicherheitszonen“ und droht immer wieder, die Besatzung auszuweiten. Mit der Begründung, die syrischen Kurden seien wegen ihrer Verbindungen zur militanten türkisch-kurdischen PKK eine Gefahr für die Türkei, die eine 900 Kilometer lange Grenze mit Syrien teilt.
Assad wiederum, der sich nur mit Putins Hilfe an der Macht halten konnte, will wieder über sein gesamtes Territorium herrschen. Und Putin? Wenn sein Plan aufgeht, würde er seinen Verbündeten Assad stärken und die Amerikaner (durch die Kurden) schwächen. Umso besser, wenn ihm das mithilfe des Nato-Lands Türkei gelingt – so kann er den Zusammenhalt des Westens sabotieren.
Washington ist angesichts der Entwicklungen alarmiert. Die USA könnten zu den Verlierern gehören, weil ihr Einfluss in Syrien abnehmen wird. Das US State Department warnte Anfang Januar andere Länder vor der „Rehabilitierung des brutalen Diktators Baschar al-Assad“. Assad verfolge weiter seine Gegner und verweigere dem leidenden Volk immer wieder den Zugang zu humanitärer Hilfe. Washington fürchtet neben einer Stärkung Assads, dass der Kampf gegen den IS beeinträchtigt wird, wenn die Strukturen der Kurden – in deren Gefängnissen Kämpfer der Terrormiliz sitzen – geschwächt oder gar demontiert werden. Die syrischen Kurden haben zum Dauerärger der Türkei in den USA einen mächtigen Verbündeten, weil sie gegen den IS gekämpft haben. Die US-Regierung hat klargemacht, dass sie gegen jede Annäherung an Assad ist, für den eine Vereinbarung mit dem NATO-Land Türkei eine immense Aufwertung wäre.
In den Augen seiner westlichen Verbündeten indes schwächt Erdogan in einer entscheidenden Zeit die Einheit der NATO nach außen. Ein Treffen zwischen den amerikanischen und türkischen Außenministern, Antony Blinken und Mevlüt Cavusoglu, war kürzlich offenbar ohne einen Durchbruch in den strittigen Fragen zu Ende gegangen.
Doch die Kritik an Erdogan ist auffällig leise. Das liegt daran, dass der türkische Präsident Position und Ansehen auf der internationalen Bühne während des Ukraine-Kriegs stärken konnte: Er positioniert sich als Vermittler, liefert Waffen an Kiew und baut gleichzeitig die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland aus.
Experten in der Türkei sehen großen „russischen Druck“ auf das Land, das Verhältnis zu Damaskus zu normalisieren. Ohne Russlands Eingreifen in den Krieg wäre Assad wohl nicht mehr im Amt. Ohne türkische Hilfe aber wäre ein Wiederaufbau Syriens weit schwieriger. Für Erdogan sind wahrscheinlich die Folgen dieser überraschenden politischen Wende leichter beherrschbar als eine eigene Wahlniederlage.
Und Europa? Hier gibt es keine europäische Syrien-Politik. Auf eine neue Flüchtlingswelle aber muss sich Europa womöglich einstellen, wenn der Druck wächst. In die von der Türkei gehaltenen „sicheren Zonen“ seien bislang 500.000 Syrer zurückgekehrt, sagte Erdogan 2022 und kündigte Wohnungsbauprogramme an, die einer Million Menschen die „freiwillige“ Rückkehr erlaubten. Die UN zählte nur 29.000 Syrer, die 2022 aus freien Stücken aus der Türkei zurückgekehrten. Immer wieder berichten syrische Aktivisten auch von Festnahmen junger Syrer in Istanbul, die man gezwungen habe, Papiere zu unterschreiben, mit denen sie einer „freiwilligen“ Rückkehr zustimmten. Dann seien sie zur Grenze gebracht worden.
Die Mittelmacht Türkei war aus geopolitischer Sicht schon immer von großer Bedeutung, im Ukraine-Krieg ist sie es umso mehr – auch, weil Erdogan seine ultrapragmatische Außenpolitik zu seinem eigenen Vorteil perfektioniert hat. Nicht zuletzt auf Kosten seiner traditionellen Verbündeten.
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