Hundert Jahre ist es nun her, dass auf den Trümmern des Osmanischen Reichs die türkische Republik gegründet wurde, geprägt von Mustafa Kemal Atatürk. Die letzten zwanzig Jahre herrschte Erdogan über das Land am Bosporus, zunächst als liberaler Aufsteiger aus der Kommunalpolitik in Istanbul, später als autokratischer Despot mit einer großen Nähe zu islamistischen Konservativen, die Religion missbrauchend zur alleinigen Zementierung der Macht. Nun könnte ein neuer „Kemal“ den Einstieg ins zweite Jahrhundert prägen. CHP-Chef Kemal Kiliçdaroglu hat es geschafft, die in der Vergangenheit of zerstrittene Opposition zu einem Bündnis gegen den Langzeitherrscher Erdogan zu vereinen. Ihr gemeinsamer Kandidat tritt bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai als aussichtsreichster Herausforderer an. In aktuellen Umfragen weniger als zwei Monate vor den Wahlen liegt der Vorsitzende der führenden Oppositionspartei vor Erdogan. Nachdem auch die Kurdenpartei HDP, die nicht offiziell zum oppositionellen Block gehört, signalisierte, keinen eigenen Kandidaten aufstellen, sondern Kiliçdaroglu unterstützen zu wollen, geriet die Kalkulation des Präsidentenpalastes durcheinander.
2018 war Erdoğan mit 52,5 Prozent zum Staatspräsidenten gewählt worden, aufgrund der Wirtschaftskrise, in die er das Land gestürzt hat, wie auch des Missmanagements nach dem Erdbeben wird er kaum die für einen Wahlsieg nötigen 50+1 Prozent erringen können. Das können auch die 9,3 Millionen Euro nicht ändern, die das von Erdogan kontrollierte Amt für Kommunikation, dessen einzige Funktion darin besteht, Propaganda für den Präsidenten und seine AKP zu machen, im Februar aufgewendet hat.
Dem Sultan wird langsam klar, dass er die Wahl verlieren könnte. Minister, die im Fall eines Wahlsiegs der Opposition vor Gericht kommen könnten, lässt er ins Parlament wählen, um sie vor einer drohenden Strafverfolgung zu schützen. Ebenso schickt er sich an, Beamte, die im Erdbebengebiet durch Fahrlässigkeit zum Tod Zehntausender beitrugen, aus demselben Grund zu Abgeordneten seiner AKP zu machen. Gleichzeitig scheint die Attraktivität der AKP nicht mehr sonderlich groß zu sein, denn politische Neulinge sehen kein Interesse, sich für ein Mandat im türkischen Parlament zu bewerben. Vor den letzten Wahlen ließen sich nahezu achttausend Personen als Abgeordneten-Kandidaten der AKP aufstellen, vor dem 14. Mai sind es bisher lediglich rund dreitausend.
Auch wenn Erdogan sich nicht mehr sicher sein kann, erfolgreich aus den Wahlen hervorzugehen, tut er alles, um den drohenden Verlust der Macht mit allen Mitteln zu verhindern. Dabei sind ihm alle Mittel recht, auch ein Paktieren mit extremistischen religiösen Gruppen. Waren es in der Vergangenheit vor allem Milli Görüs, die Muslimbruderschaft und in der Türkei einflussreiche sufistische Gruppierungen aus dem fundamentalistischen islamischen Spektrum, zusammen mit nationalistischen Bewegungen wie den Grauen Wölfen, mit denen sich der Präsident gerne zeigte, geht er nun einen Schritt weiter:Erdogan hat sich entschlossen, sich mit der HÜDA-PAR zu verbünden, dem politischen Arm der Terrororganisation Hizbullah, die für brutale Morde in der Türkei verantwortlich war. Er zielt darauf ab, die Stimmen der für die Scharia eintretenden HÜDA-PAR zu erhalten, die ihre Anhänger in den kurdischen Provinzen hat.
Der Aufstieg der türkischen Terrororganisation begann in den 90er Jahren. Im Südosten des Landes lieferten sich der Staat und die PKK erbitterte Kämpfe. Die Terrororganisation, die der Staat damals gegen die PKK unterstützte, vor deren Aktionen er, gelinde gesagt, die Augen verschloss, begann, Anschläge gegen Oppositionelle in der Region auszuüben. Dissidenten wurden auf offener Straße durch den Hieb eines Messers in den Nacken oder einen gezielten Schuss getötet oder lebendig begraben. 1994 brachte die türkische Hizbullah einen kurdischen Abgeordneten um, 2001 ermordete sie einen Polizeichef, der gegen sie vorging. Das Grauen, das die Organisation verbreitete, wurde nach einer Operation deutlich, bei der 2000 ihre Anführer getötet wurden. Dabei wurden Unterlagen sichergestellt, dank derer in zahlreichen Städten in der ganzen Türkei aus Kellergewölben die Leichen jahrelang verschwundener Oppositioneller geborgen werden konnten. Es stellte sich heraus, dass die Hizbullah ihre Opfer entführt, auf eine bestimmte Weise gefesselt hat um sie danach zu foltern, bis sie anschließend bei lebendigem Leib verscharrt wurden.
Nachdem diese Grausamkeiten ans Tageslicht gekommen waren, wurde die Hizbullah schwächer und spielte von 2002 an, dem Jahr des Regierungsantritts der AKP, die Rolle eines zivilgesellschaftlichen Akteurs. 2004 gründete sie sich als Verein, acht Jahre später wurde sie unter dem Namen HÜDA-PAR eine politische Partei. Erdogan wusste natürlich schnell, wie er sich diese neue politische Kraft zu Nutzen machen konnte: Mehr als hundert für brutale Morde verantwortliche Hizbullah-Mitglieder wurden 2011 freigelassen, weil die Verfahren angeblich zu lange dauerten, vor den Kommunalwahlen 2019 wurden auch Terroristen, die den Polizeichef von Diyarbakir und seine Personenschütze ermordet hatten, auf freien Fuß gesetzt.
Nach diesen Amnestien protestierte gar die von Erdogan kontrollierte staatliche Religionsbehörde Diyanet: „Die Hizbullah hat die Partei HÜDA-PAR gegründet, weil sie damit bessere Propagandamöglichkeiten hat. Die Partei verfügt über Gewaltpotential.“ Um mehr Stimmen zu bekommen, hat Erdogan aber alle Warnungen ignoriert und nun die Partei der gewalttätigsten Organisation der türkischen Geschichte zu „Freunden“ erklärt. Zweimal entsandte er Delegationen zu Verhandlungen mit dem HÜDA-PAR-Vorsitzenden. Nach den Konsultationen kam von HÜDA-PAR die erwartete Erklärung: „Bei den Wahlen unterstützen wir Erdogan.“ Im Anschluss an das Statement wurde der Zugang zu über tausend Berichten über die blutige Geschichte der Hizbullah und ihre Verbindung zur HÜDA-PAR per Gerichtsbeschluss gesperrt.
Nun ist also offiziell geworden, dass der Despot am Bosporus, dessen Thron mehr als wackelt, sogar nicht mehr davor zurückschreckt, mit Terroristen zu paktieren. Gleichzeitig bekämpft das Regime die Wahrheit im Land: Die immer kleiner werdende unabhängige Presse wird juristisch verfolgt oder aber einfach finanziell zerstört, die Kleptokratie und Vetternwirtschaft treibt weiter ihre Blüten, Religionsvertreter der Diyanet erlauben Ehen mit minderjährigen Mädchen für legitim, wenn deren Eltern beim Erdbeben umkamen. Es bleibt zu hoffen, dass die Wahlen im Mai ein Zeichen setzen werden für Demokratie, Rechtstaat und gegen Autoritarismus, Nationalismus und Islamismus.
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