Der türkische Präsident steht aktuell mit dem Rücken zur Wand. Eine wirtschaftliche Misere seinesgleichen, Jugendarbeitslosigkeit, Kinderarmut, Kriminalität und Drogenhandel, die Unterstützung des politischen Islamismus durch die Regierung sind Sinnbild des Sultans am Bosporus geworden.
Die Wirtschaftskrise in der Türkei hat die Arbeitslosigkeit in astronomische Höhen getrieben. Die Statistik zeigt deutlich, dass vier Millionen junge Türken im Alter zwischen 15 und 24 Jahren besonders betroffen sind: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 29 Prozent.
Während sich die Armut aufgrund Erdogans Wirtschaftspolitik verschlimmert, spielen die Finanzindikatoren der Türkei verrückt. Das im letzten Jahr zum Abbau des Außenhandelsdefizits von der Regierung aufgelegte Wirtschaftsprogramm hat, statt das Loch zu stopfen, dazu geführt, dass es in den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres um das Dreifache anwuchs. Der Abwärtstrend der Wirtschaft heizt die Arbeitslosigkeit an. Insbesondere gut ausgebildete Fachkräfte fallen aus der Beschäftigung heraus. In einer anatolischen Stadt bewarben sich auf 230 ausgeschriebene Stellen für Reinigungskräfte 72 .000 Personen, darunter zehntausend mit Studienabschluss.
„Jeder vierte Arbeitslose in der Türkei hat einen Hochschulabschluss oder ein Fachhochschuldiplom“, so der Sprecher des Statistikamtes in Ankara. „Die meisten haben Betriebswirtschaft oder Management oder so etwas studiert, teilweise im Fernstudium, also nicht einmal an einer Hochschule, sondern per Internet. Die haben zwar ein Diplom bekommen, aber nichts Vernünftiges gelernt, und deswegen bekommen sie dann auch keine Arbeit.“ Eine verfehlte Bildungspolitik der AKP-Regierung ist primär auch für verfehlte Chancen im Berufsleben junger Menschen mitverantwortlich. Experten unterstreichen die Tatsache, dass das Bildungssystem am Arbeitsmarkt versagt. So fördert die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan aus ideologischen Gründen besonders die Berufsfachschulen zur Ausbildung islamischer Geistlicher – doch die Schulabgänger dieser Imam-Hatip-Schulen sind für viele Wirtschaftsbereiche nicht vermittelbar.
Seit der Machtübernahme der AKP genießen diese Schulen insbesondere in islamischen wie konservativen Kreisen große Achtung, die türkische Regierung unternahm in den vergangenen Jahren immense Anstrengungen, um diese Schulen, die einst zur Ausbildung von Koranlehrern und Predigern gegründet wurden, zu Regelschulen umzufunktionieren. Seit ihrem Regierungsantritt eröffnete die AKP-Regierung bisher rund 4000 solcher Schulen. Sie sind nahezu vollständig ausgelastet, wie das Bildungsministerium immer wieder stolz mitteilt. In den vergangenen Jahren sind die Wahlmöglichkeiten für Schüler immer öfter starken Einschränkungen unterworfen, und viele Regelschulen werden allzu gern – wie in den vergangenen Jahren häufig geschehen – zum Schuljahresbeginn zu Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Rund 700 Mittelstufen traf es seit 2012.
An diesen Schulen wird, abweichend von staatlichen Schulen, verstärkt islamische Lehre unterrichtet und der Lehrplan zunehmend islamisiert. Koranunterricht ist das wichtigste Schulfach, statt Englisch oder Französisch steht Arabisch auf dem Stundenplan, es gibt sogar das Schulfach „Das Leben des Propheten Mohammed“. Naturwissenschaftliche Fächer werden dagegen an den Rand gedrängt. Die Folge ist, dass lediglich 14 Prozent der Absolventen dieser Schulen die zentralen Hochschulzugangsprüfungen bestehen.
Viele Schüler klagen über den Umstand, dass sie ohne ihre Zustimmung in solchen Schulen untergebracht werden, obwohl sie diese Form der Bildung gar nicht präferieren würden. Viele Schüler der Imam-Hatip-Schulen ziehen es vor, im Übergang von der Mittelschule auf die Oberstufe in andere Gymnasialformen wie die naturwissenschaftlichen Gymnasien zu wechseln.
Aber es trifft nicht nur junge Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen wollen. Die Kinderarmut in der Türkei ist ebenfalls zu einer Krise geworden. Millionen Kinder bekommen nicht mehr genug zu essen. Einer von vier Schülern geht hungrig zur Schule, in letzter Zeit häuften sich Meldungen über Kinder, die in der Schule vor Hunger ohnmächtig wurden. In der Türkei, wo die Armutsgrenze beim Fünffachen des Mindestlohns liegt, hat die jährliche Inflationsrate für Lebensmittel selbst in den von Erdogan manipulierten Statistiken 102,5 Prozent erreicht. Jugendliche, die ohne Perspektive sind, keine Bildungs- und Berufschancen haben, greifen daher immer häufiger zu harten Drogen.
Während dieser Teil von der Gesellschaft bereits abgeschrieben wurde, befindet sich ein anderer Teil in der Hand islamistischer Sekten, die mit finanzieller und politischer Unterstützung der Regierung groß geworden sind. Der Staat hat das Bildungssystem religiös geprägt und die alternativen Bildungseinrichtungen von Religionsgemeinschaften legitimiert. Sekten und Gemeinden, die die AKP als Stimmendepot betrachtet, haben Protokolle mit dem Bildungsministerium unterzeichnet und wurden ins offizielle Bildungssystem integriert, zum Teil in die Lehrerausbildung. Diese Gemeinschaften, die jeder Kontrolle entzogen sind, gerieten kürzlich aufgrund eines Skandals in die Schlagzeilen. Ein Sektenführer hatte seine sechsjährige Tochter mit einem 29-jährigen Anhänger verheiratet. In einem Land, in dem Künstler und Journalisten wegen eines Tweets verhaftet werden, wurde weder der Vater des Mädchens noch der Anhänger, der die Sechsjährige mehrere Jahre lang sexuell missbraucht hatte, verhaftet. Erdogan verlor kein Wort zu dem in Gerichtsprotokollen dokumentierten Fall. Nach zehn Tagen Schweigen ließ er sich endlich herbei zu erklären: „Die Missbrauchsvorwürfe sind eine Katastrophe.“
Aber nicht nur Islamismus, Arbeitslosigkeit, Bildungsungleichheit und Kinderarmut haben Inflation, mit den Preisen für Nahrung verhält es sich ähnlich. Der Preis für Weißkäse ist binnen Jahresfrist um das Dreifache gestiegen. Zum ersten Mal hat der Preis für Käse aus Kuhmilch den für rotes Fleisch überholt. Das liegt daran, dass die Bauern wegen Preissteigerungen von 140 Prozent auf landwirtschaftliche Erzeugnisse angefangen haben, Milchkühe zu schlachten. Damit stiegen die Milchpreise um das Zweieinhalbfache, und die Menschen der Unter- und Mittelschicht können von einem Frühstück mit Weißkäse nur noch träumen. Allerdings fand die Regierung auch dafür eine Lösung: In den von Erdogan kontrollierten Zeitungen erschienen Artikel mit Titeln wie: „Aufgepasst beim Verzehr von Weißkäse! Das sind die unbekannten Schäden“.
Wie während der Covid-19-Pandemie kommen von Erdogan un den mit ihm verbundenen Parteien auch jetzt Verlautbarungen, die eindeutig nicht der Wahrheit entsprechen, während er mit der unter seiner Kontrolle stehenden öffentlichen Hand zugleich die Rechnung für die Explosion der Lebenshaltungskosten auf andere ausstellt. So behauptet er, in Europa seien die Regale der Supermärkte leer, obwohl in der Türkei Bürger Artikel an der Kasse liegen ließen, sobald sie erführen, wie teuer diese sind. Eine ähnlich perfide Rhetorik legte der türkische Präsident an den Tag, als die Bevölkerung protestierte, weil die Türkei nicht in der Lage war, ausreichend Corona-Impfstoff zu besorgen. Erdogan fing daraufhin in der Öffentlichkeit mit dem Märchen an, in Europa, wo der Reihe nach alle geimpft wurden, werde „nur gegen Geld“ geimpft.
Sechs Monate vor den Wahlen im Juni 2023 sagt Erdogan über die um das Vierfache gestiegene Inflation: „So Gott will, werden wir sie überwinden.“ Doch weder die neuen Kredite, die er in Katar aufgenommen hat, noch die von ihm veräußerten staatlichen Besitztümer werden die Lage der Wirtschaft verändern. Auch der Kapitalzufluss aus Russland, den er trotz der Mahnung der Europäischen Union, die Türkei müsse sich an die Sanktionen halten, ins Land holt, wird nicht mehr nützen, als den Anstieg der Devisenkurse etwas zu dämpfen.
Je weiter sich das System Erdogan von Rechtsstaat und Demokratie entfernt, desto mehr weichen Investitionen, die den Arbeitsmarkt ankurbeln und Mehrwert schaffen, Schwarzgeld. Seine Politik, um jeden Preis Geld ins Land zu holen, hat die Türkei zum Paradies für Mafiosi gemacht. Als der Sultan merkte, dass der Zufluss von Kapital und Investitionen aus dem Westen stockte, setzte er das „Vermögensfrieden“-Gesetz in Kraft. Demzufolge kann jeder, Inländer wie Ausländer, nach Lust und Laune Geld in die Türkei bringen. Hat der Staat davon ein bis zwei Prozent Steuern kassiert, wird das Geld ins Bankensystem integriert, ohne dass hinterfragt wird, woher es stammt. Und das Schwarzgeld kam nicht allein, auch seine Besitzer kamen in die Türkei. Mafiosi, die sich in Russland, der Ukraine, Georgien, Bulgarien und in Iran nicht halten konnten, sind nach Istanbul geströmt. Die meisten kommen aus dem Drogenhandel. Ebenso kommen Geldflüsse reicher extremistischer Islamisten ins Land, besonderen Cash-Flow garantieren die reichen, von Katar finanzierten Manager von Organisation wie der Muslimbruderschaft.
Für die im Sommer diesen Jahres anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sieht es aktuell düster aus für Erdogan und sein System. Gerade versucht er mit einer neuen Pressezensur, Schauprozesse gegen Oppositionelle, die für ihn zur Gefahr wurden, wieder Land zu gewinnen bei den Wählern. Viel zu nützen scheint es derzeit nicht! In keiner Meinungsumfrage, außer der von der eigenen Partei veröffentlichten, sieht es nach einem Wahlsieg für Erdogan aus. Offenbar hat er selbst erkannt, dass sich kein Sieg abzeichnet, denn neulich räumte er erstmals ein, möglicherweise Fehler gemacht zu haben: „Bei einem Mann, der das Land seit so vielen Jahren regiert, kann es selbstverständlich zu Unzulänglichkeiten oder Fehlern kommen.“ Und bat die Wähler „ein letztes Mal“ flehentlich um ihre Unterstützung: „Mit der Kraft, die wir aus der Unterstützung ziehen, um die wir die Nation 2023 zum letzten Mal für uns selbst bitten, werden wir beginnen, das Jahrhundert der Türkei aufzubauen, und diese heilige Fahne dann den Jüngeren übergeben.“
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