Der bekannte Journalist Kadri Gürsel hat es auf den Punkt gebracht: Es gibt in diesem Land keine größere politische Bewegung als den „Anti-Erdoğanismus“.
Mit den türkischen Wahlen am 14. Mai ist es wie mit einem Kampf gegen einen angeschlagenen Endgegner. Noch nie, seit Recep Tayyip Erdoğan regiert, war die Opposition so siegessicher. Und gleichzeitig merkt man ihr die Nervosität an: Erdoğan, der ewige Präsident, der alte Taktiker, könnte es doch noch drehen. Könnte das Land überraschen, wie er es oft getan hat.
Diesmal sollte Erdoğan zu schlagen sein. Eigentlich. Alles deutet darauf hin. Die Hyperinflation, das schlechte Krisenmanagement nach den Erdbeben. Die Korruption hinter den Baugenehmigungen, die jeder sehen kann, wer sie sehen will. Der Präsident wirkt geschwächt, politisch wie persönlich. Man sieht es ihm bei Auftritten an: Das ist nicht mehr der Masseneinpeitscher, der er vor wenigen Jahren noch war. Seine beste Zeit liegt hinter ihm, er sollte zu besiegen sein. Nur von wem?
Der Gegenkandidat
Die Gegnerschaft zu Erdoğan war es, was die Opposition verbunden hat, bis zu dem Zeitpunkt, als die rechte und nationalistische IYI-Partei das Oppositionsbündnis verließ. Auch das hatte mit Erdoğan zu tun, mit der Frage nämlich, wer ihn bei den Wahlen am 14. Mai wahrscheinlich schlagen kann. Kemal Kiliçdaroğlu von der größten Oppositionspartei CHP? Er gilt als erfahrener Technokrat, dem viele zutrauen, das von Erdoğan eingeführte Präsidialsystem rückabzuwickeln und die Türkei zu einer parlamentarischen Demokratie zurückzuführen, in denen sich die Macht auf mehr Schultern verteilt als bisher. Allerdings: Eine Wahl gegen den Präsidenten hat Kiliçdaroğlu, seit 2010 Oppositionsführer, noch nie gewonnen. Er hatte sich aber trotz des Widerstands mit seiner Kandidatur durchgesetzt und die Einheit der Opposition wiederhergestellt, ohne die sie kaum eine Chance hätte, Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu besiegen. Sein politisches Geschick hatte Kiliçdaroğlu bereits in den vergangenen zwei Jahren unter Beweis gestellt, als er sechs Parteien mit einer großen weltanschaulichen Bandbreite in ein Bündnis zusammengeführt hatte. Neben den zwei größten Parteien, der linkssäkularen CHP und der nationalkonservativen Iyi-Partei, gehören ihr beispielsweise eine kleine islamistische Partei und zwei Abspaltungen von Erdoğans AKP an.
Die Graue Wölfin der Opposition
Für die IYI-Vorsitzende Meral Akşener war Kiliçdaroğlu immer zu links, er gehört er der religiösen Minderheit der Aleviten an. Auf die Umfragen verweisend bezweifelt sie seine Chancen auf einen Wahlsieg. Früher hat sie das höflicher ausgedrückt, bei ihrem vorläufigen Rückzug aus dem Bündnis klang es so: Eine Wahl zwischen Erdoğan und Kiliçdaroğlu sei eine „zwischen Tod und Malaria“. Akşener glaubt, die CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara hätten bessere Aussichten. Aus der CHP heißt es, Akşener habe sich als Erdoğans trojanisches Pferd im Bündnis entpuppt. Ihr Vorschlag für Imamoğlu könne Erdoğan den Verbleib im Amt sichern, sollte die nicht unabhängige Justiz Imamoğlu, wie angedroht, mit einem Politikverbot belegen. Zugunsten von Akşener wird hingegen argumentiert, dass viele Wähler der nationalistischen Iyi-Partei in der ersten Runde nicht zur Wahl gehen, sollte Kiliçdaroğlu der Kandidat der Opposition sein. Daher müsse sie einen anderen Kandidaten präsentieren. Kiliçdaroğlu zeigte sich kämpferisch und machte der prokurdischen HDP, die wegen des Widerstandes der nationalistischen Iyi-Partei nicht dem Oppositionsbündnis angehört, indirekt ein Angebot zur Zusammenarbeit.
Akşener sagte, ihre Partei habe die Personalie „nach einer datenbasierten, rationalen Methode“ bestimmen wollen. „Aber dieser Vorschlag wurde leider von den anderen abgelehnt.“ Persönliche Ambitionen seien über das Wohl der Türkei gestellt worden, so die ehemalige Innenministerin. Nach internen Beratungen und Gesprächen mit den anderen Parteien war dann aber doch Akşener dazu bewegt worden, an den gemeinsamen Tisch der Opposition zurückzukehren. Eine Rolle bei ihrer Rückkehr in das Oppositionsbündnis dürfte auch die Option gespielt haben, nach den Wahlen vom 14. Mai Regierungspartner zu werden – und damit ihr Amt als Vorsitzende verteidigen zu können. Zuletzt haben die Spannungen zwischen den drei Flügeln in ihrer Partei zugenommen. Das Gewicht des nationalistischen Flügels, der sich aus den Mitgliedern zusammensetzt, die mit Akşener 2017 die MHP verlassen hatten, hatte zugunsten des marktwirtschaftlich-technokratischen und des konservativen Flügels abgenommen. Dass ihr Vorschlag vom Wochenende, den Anwalt Ersan Sen zum Präsidentschaftskandidaten zu machen, auf keinerlei Resonanz stieß, könnte in Akşeners Kalkulationen auch eine Rolle gespielt haben.
Die Hoffnungsträger der Zukunft
Noch am Tag des Rückzugs von Akşener bemühten sich die Vertreter aller sechs Parteien, das Bündnis wieder zu kitten. Als sich bei Beratungen der Bündnisparteien CHP, Deva und Saadet mit der Iyi-Partei keine Einigung abzeichnete – beide Seiten hielten an ihren ursprünglichen Forderungen fest, bei Akşener war es die Ablehnung von Kiliçdaroğlu als Kandidaten –, begann die Suche nach einer Kompromissformel. Nach türkischen Medienberichten einigten sich die CHP-Spitzengremien darauf, die Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, Imamoğlu und Yavas, als Kandidaten für das Amt der Vizepräsidenten vorzuschlagen. Die anderen vier Parteien stimmten dem zu, und Imamoğlu reiste aus Istanbul an. Noch in der Nacht trafen Imamoğlu und Yavas mit Akşener zusammen. Die unterrichtete noch in der Nacht die Führungsgremien ihrer Partei.
Beim Volk beliebter als Kiliçdaroğlu sind tatsächlich die jeweiligen Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavas, die ebenfalls beide der CHP angehören und seit Monaten als Kandidaten gehandelt werden. Akşener würde beide unterstützen, verkündete sie – und forderte die zwei Politiker zu einer eigenen Kandidatur auf.
Vor allem Imamoğlu ist international bekannt, weil er 2019 einen spektakulären Sieg gegen Erdoğan einfuhr. Bei der Lokalwahl hatte er in Istanbul die meisten Stimmen geholt, obwohl die Stadt zuvor von der Regierungspartei AKP geführt wurde. Gegen ihn war ein Loyalist Erdoğans angetreten. Der Präsident wollte das Ergebnis nicht akzeptieren.
Erdoğan selbst hatte einst seine Karriere als Istanbuler Bürgermeister begonnen, die Stadt hat einen hohen symbolischen Wert für ihn. „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, sagte er einmal. Also ließ er die Wahl wiederholen – und Imamoğlu vergrößerte seinen Vorsprung so sehr, dass niemand mehr den Sieg anfechten konnte.
Erdoğan hatte erkannt, wie gefährlich der neue Istanbuler Bürgermeister ihm werden konnte. Weil er angeblich die Mitglieder der Wahlbehörde rund um die Kommunalwahl beleidigt haben soll, wurde Imamoğlu im vergangenen Jahr zu einer Gefängnisstrafe und Politikverbot verurteilt – seine größte Schwachstelle als möglicher Oppositionskandidat. Er hat Berufung eingelegt.
Yavas wurde im selben Jahr Oberbürgermeister von Ankara wie sein Amtskollege in Istanbul. Er machte sich bei den Menschen beliebt, indem er die öffentlichen Dienstleistungen verbesserte. Seine hohen Zustimmungswerte, gepaart mit seiner staatsmännischen Art, machen ihn in den Augen mancher zu einem geeigneten Kandidaten.
Gleichzeitig ist über ihn von allen drei Männern am wenigsten bekannt, denn er scheut das Rampenlicht und internationale Medien. Seine politische Karriere begann er zudem im ultranationalistischen Milieu, was ihn für viele Kurdinnen und Kurden unwählbar machen dürfte. Sie aber könnten im Kampf um die Präsidentschaft ein wichtiges Zünglein an der Waage sein.
Die kurdische Frage
Im Oppositionsbündnis fand eine Partei nie Platz: die prokurdische HDP. Niemals, so Akşener, werde sie mit einem HDP-Vertreter an einem Tisch sitzen. An einen Tisch mit Akşener, antwortete eine HDP-Sprecherin, wolle man gar nicht. Die HDP wird seit Jahren von Erdoğans Regierung kriminalisiert, ihr früherer Vorsitzender Selahattin Demirtaş sitzt im Gefängnis.
In der Opposition vertraute man darauf, dass die Anhängerinnen und Anhänger der HDP ohnehin gegen Erdoğan stimmen würden – auch wenn ihre Partei nicht mit am Tisch sitzt. Jetzt könnte der CHP-Chef die Nähe zu den Kurden suchen und mit ihr zusammen ein neues, linkeres Bündnis schaffen. Ein solches Bündnis wäre riskant, denn nicht nur Erdoğan hält die HDP für den politischen Arm der PKK. Viele in der Türkei sehen das so. Die Opposition wäre in deren Augen ein Bündnis mit den Terroristen. Erdoğan würde das im Wahlkampf sicher gern für sich ausnutzen.
Nun erklärte der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, auch seine Partei prüfe, ob sie auf einen eigenen Kandidaten bei der Präsidentenwahl verzichten und den gemeinsamen Kandidaten der Opposition unterstützen werde. Ziel sei es, einen demokratischen Wandel einzuleiten. Im Januar hatte die HDP noch signalisiert, dass sie einen eigenen Kandidaten aufstellen könnte.
Die neue Konstellation erhöht nun die Aussichten der Opposition, nicht nur im Parlament eine Mehrheit zu stellen, sondern auch Erdoğan als Präsidenten abzulösen. Der Plan des Bündnisses, mit der neuen Formel auch Wähler an sich binden, die nicht von Kiliçdaroğlu überzeugt sind, könnte durchaus aufgehen. Die Opposition ist fest entschlossen, die Unzufriedenheit der Menschen mit der Wirtschaftslage und dem schlechten Krisenmanagement nach dem Erdbeben für einen Regierungswechsel zu nutzen. Doch der Ausgang der Wahl wird stark vom Verhalten der kurdischen HDP abhängen und ob sie sich nicht doch für einen eigenen Kandidaten entscheidet.
Letztlich spiegeln sich in der Opposition die Konflikte der türkischen Gesellschaft, die sich während der Erdoğan-Jahre noch verschärft haben. Die kurdisch-dominierte HDP gab bekannt, dass sie Kiliçdaroğlu oder Imamoğlu unterstützen würde – im Fall von Mansur Yavas aber einen eigenen Kandidaten nominieren. Allerdings sind dem Kandidaten des Sechserbündnisses in der Stichwahl die Stimmen aller sicher, die Erdoğan loswerden wollen. Spätestens seit den Beben ist das die Mehrheit.
Der amtierende Präsident hat die Spaltung der Opposition mit Schadenfreude verfolgt. Er habe immer gewusst, sagte Recep Tayyip Erdoğan, „dass die sich treffen, reden und sich zerstreuen“ würden. Er arbeite weiter „an seiner Roadmap“, egal, was die Opposition so treibe. An Erdoğans Problem hat sich nichts geändert, er ist weit entfernt von den mindestens 50 Prozent, die er zur Wiederwahl braucht. Er hat es nun aber leichter, seine Gegner gegeneinander auszuspielen. Das kann er meisterhaft. Recep Tayyip Erdoğan spricht noch immer die Sprache seiner Wählerinnen und Wähler. Wenn er den Erdbebenopfern neue Häuser verspricht, wenn er gleichzeitig um Vergebung bittet. Aber die Menschen, die er anspricht, sind nicht mehr in der Mehrheit. Die Opposition dagegen, dieses unwahrscheinliche Bündnis aus Linken und Rechten, aus Kemalisten und Islamisten, sie müsste schon viel falsch machen, um diese Wahlen zu verlieren.
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