Das Treffen der Präsidenten der Türkei und Russlands, Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin in Teheran letzte Woche, eine historische Zusammenkunft: Erdogan war der erste Politiker eines NATO-Landes, der Putin seit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine persönlich traf und ihm die Hand schüttelte, dem Mann, der diesen Krieg befohlen hatte. Noch beim NATO-Gipfel in Madrid bot sich ein ähnliches Bild, nur nicht so herzlich wie das zwi-schen Zar und Sultan: Als Erdogan und der US-Präsident Joe Biden nebeneinander standen, konnte man kaum den Eindruck haben, dass die beiden eine gegenseitige Sympathie verbindet.
Aber zurück nach Teheran! „Ich freue mich, auf gastfreundlichem Boden zu sein“, so Putin am Dienstagabend zu den Journalisten. „Wir werden unsere Kooperation in internationa-len Sicherheitsfragen stärken und dazu beitragen, den syrischen Konflikt beizulegen.“ Raisi gab die Komplimente zurück und lobte das gemeinsame Bestreben „den Terrorismus zu bekämp-fen“. Obwohl es bei dem Treffen offiziell um die Lage in Syrien ging, stand auf der Pressekon-ferenz die Lage in der Ukraine im Vordergrund. Schmallippig zeigte Putin dem Westen die kal-te Schulter. Wichtiger war Putin aber wahrscheinlich ohnehin ein ganz anderes Thema. Aus US-Geheimdienstkreisen war in den vergangenen Wochen durchgesickert, Iran sei bereit, die russische Armee mit Kampfdrohnen aus eigener Produktion zu beliefern. Von iranischer Seite wurde die Lieferung in Teheran nicht bestätigt, doch die Gerüchte über die bereits laufende Ausbildung russischer Soldaten an den Kamikaze-Drohnen machen in Iran die Runde. Solche iranischen Waffenlieferungen in den Ukraine-Krieg könnten die Gespräche über ein neues Atomabkommen stören.
Irans vorrangiges Interesse besteht darin, nach der Reise von Joe Biden in den Nahen Osten ein Gegengewicht gegen die neue Achse zu bilden, die zwischen Israel und den arabi-schen Golfstaaten Gestalt annimmt. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin steht die ganze Außenpolitik derzeit im Zeichen seines Kriegs gegen die Ukraine. Nur für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist tatsächlich Syrien im Vordergrund. Er hat im Mai einen Einmarsch in den Norden Syriens angekündigt, um dort eine sogenannte Sicherheitszone von 30 Kilometern zu bilden. Ohne Zustimmung Russlands und Irans ist das freilich nicht möglich – und die werden dazu nicht ohne Gegenleistungen bereit sein. Seit Wochen spricht Erdogan von dieser Offensive. Dort will er eine 30 Kilometer breite Pufferzone schaffen und die Kur-denmiliz YPG zurückdrängen, die Erdogan als verlängerten Arm der PKK sieht, einer auch in Europa als Terrororganisation gelisteten Vereinigung. Gleichzeitig würde ihm eine solche Zone erlauben, syrische Flüchtlinge aus der Türkei dort anzusiedeln – ein Thema, bei dem der türki-sche Präsident innenpolitisch immer mehr unter Druck gerät.
Macht Erdogan mit der neuen Offensive ernst, riskiert er den nächsten offenen Konflikt innerhalb der Nato – mitten im Ukraine-Krieg, in dem die Verteidigungsallianz um Einheit be-müht ist. Ankaras Präsenz in Syrien hat schon in der Vergangenheit zu Spannungen zwischen dem Nato-Mitglied und seinen westlichen Partnern geführt, weil die YPG der wichtigste Ver-bündete der Amerikaner im Kampf gegen die Terrormiliz IS war. Das Pentagon ist alarmiert. Wenn kurdische Kräfte durch eine türkische Invasion gebunden wären, so die Sorge, könnten tausende IS-Terroristen aus kurdisch bewachten Behelfsgefängnissen in der Region entkom-men.
Erdogan ist sich bewusst, dass Putin in Syrien in der Defensive ist, die russische Inva-sion in der Ukraine lässt eine parallele Militäraktion in Syrien nicht zu. Moskau musste Einhei-ten von dort abziehen und verlegte Soldaten in die Ukraine. Zudem hat es Söldner der privaten Sicherheitsfirma Wagner aus Syrien in die Ost-Ukraine gebracht und syrische Söldner dorthin entsandt. Damit rechnet sich Erdogan Chancen aus, Moskau zumindest eine begrenzte türkische Offensive abringen zu können. Angesichts der Strafmaßnahmen des Westens gegen Russland und die sich verändernde russische Energiepolitik ist es für Moskau zentral, dass die Türkei keine Sanktionen erlässt. Auch will Russland die Türkei nicht verprellen, weil sie als einziges Nato-Land eine politische Beziehung zum Kreml unterhält, ein gewisses Druckmittel für die Türkei.
Für Erdogans Vorhaben in Nordsyrien braucht er auch die Zustimmung des iranischen Präsidenten Raisi, denn der Iran ist skeptisch: Erdogan will Regionen erobern, die nahe an die iranische Einflusssphäre heranreichen. Wenn überhaupt, dürfte Raisi seine Zustimmung für ei-ne Invasion nur mit Sicherheitsgarantien für seine schiitischen Schützlinge geben. Denn auch Teheran nutzt das russische Vakuum in Syrien. So sollen, zur Missgunst Moskaus, iranische Kräfte an strategisch wichtige Stellen zurückgekehrt sein, wie etwa in die Nähe des Flughafens von Damaskus und unweit der israelischen Grenze entfernt.
In Wirtschaftsfragen sind Russland und Iran bisher indes keine Partner, sondern Kon-kurrenten. Beide Länder exportieren vorrangig Energierohstoffe. Indem Russland sein Öl etwa China und Indien nun mit einem Preisabschlag anbietet, schmälert es damit Irans Devisenerlö-se. Hinzu kommt, dass Moskau derzeit ein starkes Interesse hat, Iran vom Weltmarkt für Öl fernzuhalten – denn je leichter die westlichen Länder sich Erdöl aus anderen Quellen als Russ-land beschaffen können, desto stumpfer wird die Energiewaffe des Kremls. Das ist wohl auch einer der Gründe, weshalb Putin einen abermaligen Abschluss des Abkommens über das irani-sche Atomprogramm verhindern will.
Die Interessengegensätze zwischen Moskau und Teheran in der Energiepolitik gehen noch tiefer und liegen länger zurück. Bereits 2021 hat Iran die Entdeckung eines großen Öl- und Gasfeldes in seinem Hoheitsgebiet des Kaspischen Meers bekannt gegeben. Nach Anga-ben von Experten hat sich Iran gegenüber Russland aber verpflichtet, das Feld zwanzig Jahre nicht auszubeuten, und sollte es geschehen, bekämen russische Firmen den Auftrag.
Das Kaspische Meer ist noch aus einem zweiten Grund Anlass für Verwerfungen zwi-schen Teheran und Moskau. Iran hat noch immer nicht die zwischen den Anrainern 2018 ver-einbarte Konvention zum rechtlichen Status des Kaspischen Meers ratifiziert. Zu Zeiten der Sowjetunion hatte ein bilateraler Vertrag Iran 50 Prozent des Binnenmeeres zugesprochen. Die neue Konvention, an der als Anrainerstaaten außer Russland und Iran auch Aserbaidschan, Ka-sachstan und Turkmenistan beteiligt sind, reduziert den Anteil Irans auf nur noch gut zehn Pro-zent. Das will Teheran nicht akzeptieren.
Zum Schluss kehren wir zurück zum Bosporus: Seit dem Kalten Krieg, in dem die Türkei als unentbehrliches Bollwerk gegen die Sowjetunion die Südostflanke der NATO er-folgreich verteidigte, ist seine Bedeutung weiter gewachsen. Der Weg Russlands zu den war-men Weltmeeren führt durch die beiden Meerengen der Türkei: den Bosporus, der das Schwar-ze Meer mit dem Marmarameer verbindet, und die Dardanellen, die Verbindung vom Marma-rameer zur Ägäis. Eine lange Grenze verbindet das Land mit Syrien, dem Irak und Iran, die dem Westen aus unterschiedlichen Gründen gefährlich werden können. Zudem ist die Türkei mit ihren Gaspipelines aus Zentralasien und Iran für Europa ein unentbehrlicher Energiekno-tenpunkt. Sein Stellenwert für den „Southern Gas Corridor“ Europas wird im Zeitalter nach dem russischen Gas weiter zunehmen. Damit ist zumindest dem Sultan Erdogan klar, dass er sein Spiel weitertreiben kann, egal, mit welchen „Partnern“ er sich gerade umgibt. Darauf sollte der Westen und Europa vorbereitet sein.
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