Das Präsidialsystem in der Türkei, welches vor sechs Jahren eingeführt wurde, hat Recep Tayyip Erdogan eine präzedenzlose Machtfülle beschert. Die Gewaltenteilung ist geschwächt, die Unabhängigkeit der Institutionen sowieso. Die wichtigsten Fäden der türkischen Politik laufen im Präsidentenpalast in Ankara zusammen. Frei von äusserer Einflussnahme ist der türkische Präsident dennoch nicht. In medienwirksamer Weise demonstriert dies seit einigen Monaten Devlet Bahceli, der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP).
Der Rechtsextremist veröffentlicht immer wieder Aufnahmen, die Codes und versteckte Botschaften enthalten. Nicht immer ist der Öffentlichkeit klar, was damit bezweckt werden soll. Dass es sich um eine Machtdemonstration handelt, ist aber unbestritten. Die ultranationalistische MHP, zu deren Dunstkreis auch die berüchtigten Grauen Wölfe gehören, ist seit 2015 Erdogans Bündnispartner. Kritiker monieren schon lange, dass die Partei mit zuletzt nur noch knapp fünf Prozent Wähleranteil über unverhältnismässig grossen Einfluss verfügt. Nach den Lokalwahlen Ende März, die Erdogan die schwerste Niederlage seiner Karriere einbrachten, kamen Gerüchte auf, dass sich der Präsident der politischen Mitte zuwenden könnte. Für die angestrebte Verfassungsänderung, die ihm vermutlich eine weitere Amtszeit sichern soll, ist Erdogan auf eine breitere Koalition angewiesen.
Laut Medienberichten hatte Bahceli nach der Wahlniederlage Ende März unter anderem ein härteres Vorgehen gegen die prokurdische DEM-Partei gefordert. Der nächste Coup folgte, als Erdogan im Juni zum ersten Mal seit 18 Jahren das Hauptgebäude der grössten Oppositionspartei, CHP, besuchte. Die kemalistische Partei ist die grosse Gewinnerin der Lokalwahlen. Am Tag des Besuchs veröffentlichte Bahceli ein Foto seiner Hand, die eine Akte hält. An einem Finger steckte ein Ring mit der Aufschrift „Gott ist mir genug“. Die Akte soll laut dem rechtsextremen Politiker Ümit Özdag auf Dokumente zu unsauberen Machenschaften von Erdogans AK-Partei anspielen. Er wisse von internen Quellen, dass Bahceli über solche Belege verfüge und damit Druck ausübe, sagte Özdag in einem Interview. Dass sich die MHP Zugang zu geheimdienstlichen Dokumenten verschaffen kann, klingt für viele Türken plausibel. Die Partei ist in den Sicherheitsstrukturen traditionell stark verankert.
Seit den Säuberungen nach dem gescheiterten Putschversuch von Juli 2016 haben die Ultranationalisten ihren Einfluss noch ausgebaut. Auf viele Stellen im Staatsdienst, die von echten oder vermeintlichen Anhängern der Gülen-Sekte besetzt gewesen waren, rückten MHP-Sympathisanten nach. Die Gülen-Bewegung wird in der Türkei für den Putschversuch verantwortlich gemacht. Das Ausmaß seines Einflusses unterstrich Bahceli, als er am 15. Juli, dem Tag des Putschversuchs, eine Sondereinheit der Polizei besuchte. Der Kommandant küsste zur Begrüssung die Hand des Politikers. Auch davon wurde ein Bild geteilt.
Die Geste ist in der Türkei als Ehrbezeugung gegenüber Älteren nicht unüblich. Dennoch entging die Symbolik niemandem. Die Polizei müsse dem ganzen Staat gegenüber loyal sein, nicht nur gegenüber einer Partei, mahnte der Oppositionschef Özgür Özel daraufhin sinngemäss. Dabei klang auch der Vorwurf an, dass nach dem Putschversuch das Gülen-Netzwerk im Staatsdienst zwar zerstört worden sei, die ultranationalistischen Parallelstrukturen aber fortbestünden. Bereits davor hatte der ehemalige Regierungschef Ahmet Davutoglu Erdogan warnend darauf hingewiesen, dass es Kreise gebe, die glaubten, stärker als der Staat zu sein.
Die Verbindungen von Sicherheitsdiensten, Ultranationalisten und organisierter Kriminalität werden in der Türkei als der „tiefe Staat“ bezeichnet. Dieser wird vor allem mit den unruhigen achtziger und neunziger Jahren verbunden, als die Grauen Wölfe mit Deckung von oben gegen linke Politiker und Minderheitenvertreter vorgingen. Doch auch heute steht der „tiefe Staat“ in den Schlagzeilen. Sinan Ates, der ehemalige Chef der Grauen Wölfe, wurde Ende 2022 ermordet. Es gibt starke Hinweise, dass es sich um einen Machtkampf innerhalb der ultranationalistischen Szene handelt. Auch Bahcelis MHP und Vertreter des Sicherheitsapparats sollen darin involviert sein. Die MHP ist bemüht, den Fall als gewöhnliches Verbrechen darzustellen. Bis jetzt folgt die Justiz dieser Erzählung. Regierungsgegner vermuten, dass die Staatsanwälte und Richter unter Druck gesetzt werden.
Weitere Posts vom Nationalisten zeigen zwei Kommandanten der Syrischen Nationalen Armee (SNA), die zuerst Bahceli, dann den Mafiaboss Alaattin Cakici besuchten. Bei der SNA handelt es sich um einen von Ankara unterstützten Zusammenschluss syrischer Rebellengruppen mit bis zu 100.000 Kämpfern. Der verurteilte Schwerverbrecher Cakici, der an seinem Geburtstag seine Ex-Frau vor den Augen des gemeinsamen Sohnes erschiessen ließ, ist ein ehemaliges Mitglied der Grauen Wölfe und ein enger Vertrauter Bahcelis. Der Politiker hatte sich persönlich für Cakicis Haftentlassung eingesetzt. Auf dem Bild mit dem Mafiaboss Cakici und den beiden Kommandanten ist auch ein grosser Dolch zu sehen, der in Richtung Kamera zeigt. Der Journalist Mehmet Yilmaz ist überzeugt, dass es sich hierbei um eine Warnung und eine Machtdemonstration Bahcelis handelt. Die SNA-Kommandanten und Bahceli sind verärgert darüber, dass Erdogan die Beziehungen zum syrischen Diktator Bashar al-Asad normalisieren will. Die kemalistische Opposition fordert diesen Schritt schon lange, weil sie sich davon die Rückführung von Flüchtlingen erhofft. Die SNA wäre eine Verliererin des Prozesses.
Letzten Monat setzte Bahceli für einmal auf ein gängigeres Mittel der politischen Kommunikation. In einer überraschend anberaumten Pressekonferenz sagte er, seine Partei habe eine Liste mit 154 Politikern, Journalisten und Akademikern vorbereitet, die der MHP mit unlauteren Mitteln Schaden zugefügt hätten. Zu gegebener Zeit werde man die Akten der Justiz übergeben. Als einer der prominentesten Namen figuriert Özgür Özel, der Chef der grössten Oppositionspartei.
Der Kampf im inneren Zirkel der politischen Macht in der Türkei geht also weiter. Das wirft auch einen Schatten auf Erdogan. Es stellt sich die Frage, wie lange der Präsident sich diese Machtdemonstration seines Juniorpartners noch gefallen lassen will.
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