Bei der Reform des Asylrechts innerhalb der Europäischen Union haben die Mitgliedstaaten den letzten großen Streitpunkt abgeräumt: Im Europäischen Rat wurde nämlich Einverständnis über die sogenannte Krisenverordnung erzielt. Diese setzt Regeln für den Fall, dass ein Land von außergewöhnlich hohen Flüchtlingszahlen betroffen ist. Geflüchtete Menschen können für sehr lange Zeit in Lagern festgehalten werden, ihre Rechte massiv eingeschränkt.
In der italienischen Regierung war zunächst der Eindruck entstanden, die spanische EU-Ratspräsidentschaft sei mit ihrem Kompromisspapier deder deutschen Regierung zu weit entgegengekommen. Es ging vor allem um die Arbeit von privaten Seenotrettern. Letztlich einigte man sich auf kosmetische Korrekturen. Worauf es der deutschen Regierung ankommt, blieb im Text, wenn auch weniger prominent: Einsätze von zivilen Seenotrettern können nicht genutzt werden, um die Krisenverordnung zu aktivieren. Nur die Regierungen von Polen und Ungarn stimmten gegen den Kompromiss, der Stimme enthielten sich Österreich, Tschechien und die Slowakei.
Die Beschlüsse haben allerdings noch keinen Gesetzescharakter. Die Regierungen verständigten sich vielmehr auf ihre Position zu dem Gesetzentwurf, den die Kommission vorgelegt hat. Die Krisenverordnung ist letzter Baustein eines zehn Gesetzestexte umfassenden Asylpakets. Nun können die abschließenden Verhandlungen über das ganze Paket mit dem Europaparlament beginnen. Sie sollen vor der Europawahl abgeschlossen werden – als Zeichen dafür, dass die EU gemeinsam Mittel findet, die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge zu verringern.
Die Reform soll nun sicherstellen, dass alle Flüchtlinge an den Außengrenzen registriert werden und eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen. Diejenigen Asylbewerber mit geringen Aussichten auf Erfolg können zwölf Wochen lang in Lagern festgehalten und von dort nach einem Schnellverfahren wieder abgeschoben werden. Den Fall einer „Migrationskrise“ müssen die Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit (etwa zwei Drittel) feststellen. Dann könnten im Extremfall alle Geflüchteten monatelang interniert werden.
Deutschland sperrt sich also auch nicht mehr gegen die letzte Grausamkeit im Baukasten der großen europäischen Asylreform, die sogenannte Krisenverordnung. „Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, wir stimmen zu“, sagte die Innenministerin Faeser in Brüssel, einem Machtwort des Bundeskanzlers an die Grünen folgend. Geflüchtete können demnach bei außergewöhnlichem Andrang an den Grenzen monatelang in Lager eingesperrt werden. Faeser legte Wert darauf, sie habe noch einige Erleichterungen für die Migranten in den Text hineinverhandelt. Deutschlands Rolle in der europäischen Migrationspolitik ist es eben nach wie vor, den hässlichen Dingen ein humanitäres Mäntelchen überzuwerfen. Aber das ändert nichts daran, dass hier eine Zäsur in der europäischen Migrationspolitik vorbereitet wird, mit Berliner Unterstützung.
Wegen dieser harten Regeln hatten die Grünen, besonders in Deutschland, ihre Bedenken angemeldet. Innenministerin Nancy Faeser wertete, dass der Krisenfall nun als wirklich „außergewöhnlich“ definiert werde, auch humanitäre Erleichterungen verhandelte sie in den Text. Sie erklärte, sie sei froh, dass die Bundesregierung „ihre Vorstellungen von Menschlichkeit und Ordnung“ habe durchsetzen können. Bei den Grünen bricht jedoch deswegen nun offener Streit aus. Teile der Partei erklärten, sie seien „entsetzt“ über den Kurs der Parteispitze. Die Reform sehe eine „historisch beispiellose Verschärfung des in der EU geltenden Asylrechts vor“. Entgegen den Behauptungen der Parteispitze könnten Schutzsuchende auch aus Ländern wie Syrien oder Afghanistan in Lagern an den Außengrenzen eingesperrt und ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe in Staaten außerhalb der EU abgeschoben werden. Das sei die „Aufgabe grüner Kernpositionen“. Die Parteispitze ignoriere Parteibeschlüsse und versuche, die Basis mit „Falschbehauptung intern ruhigzustellen“.
Auf EU-Ebene spielt das Thema Abkommen mit Tunesien auch weiterhin eine Rolle. Die EU bietet dem Land insgesamt eine Milliarde Euro an Finanzhilfen an, gekoppelt an die Erwartung, dass Migranten an der Überfahrt Richtung Italien gehindert werden. Man stehe weiterhin in Kontakt mit der tunesischen Regierung und werde das Abkommen weiter mit Leben füllen. In Brüssel wird spekuliert, Saied pokere um mehr Geld, außerdem stehe er unter innenpolitischem Druck. Mitglieder der von ihm unterdrückten Opposition kritisieren, die EU zeige „kolonialistisches Verhalten“. Für Ärger sorgte vor allem ein Interview des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Er forderte, die EU solle neben Geld und Material auch eigene Experten nach Tunesien schicken, um die tunesische Küstenwache zu unterstützen.
Die Einigung im EU-Rat soll nun der Einstieg in die solidarische Verteilung auf alle EU-Mitglieder sein. Die geplanten Reformen sollen sicherstellen, dass alle ankommenden Migranten lückenlos an den Außengrenzen erfasst werden. Sie bieten zumindest im Prinzip den Einstieg in ein System der solidarischen Verteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedstaaten. Vor allem setzt die EU darauf, Asylbewerber mit wenig Aussicht auf Erfolg an den Außengrenzen festzuhalten und von dort wieder abzuschieben. Wichtigstes Ziel: Die Flüchtlingszahlen in Europa sollen sinken.
Bei den Europawahlen im Juni 2024 will man dem Wahlvolk dann mit der vollendeten Reform zeigen: Europa handelt gemeinsam in Migrationsfragen, Europa hat einen Plan, Europa braucht keine Nationalisten und Populisten. Die Reformen allein werden kaum reichen, um die rechte Welle zu stoppen, die bei den Europawahlen zu erwarten ist. Dafür kommen sie zu spät. Die Europäische Union hat nach den Krisenjahren 2015 und 2016 zu lange gebraucht, um zu einer gemeinsamen Migrationspolitik zu finden. Jetzt sucht sie kurzfristige Lösungen. In aller Eile schloss man ein Abkommen mit dem zwielichtigen tunesischen Präsidenten Kais Saied, der die Migranten an der Überfahrt nach Italien hindern soll. Vermutlich werden ähnliche Deals mit Ägypten und Marokko folgen. Die einzige europäische Regierung, die moralische Bedenken anmeldet, ist die deutsche. Prägende Figur der europäischen Migrationspolitik ist derzeit aber nicht Deutschland, sondern die italienische Postfaschistin Giorgia Meloni. Vermutlich wird sie auch die nächste Stufe der Migrationsdebatten beherrschen. Dabei wird es darum gehen, europäische Asylverfahren nicht mehr in Europa, sondern auf anderen Kontinenten abzuwickeln, beispielsweise in Nordafrika. Regierungen, die sich solchen Ideen widersetzen, gibt es in Europa immer weniger. Flüchtlingsfreundliche Staaten wie Schweden und Dänemark haben sich einem Kurs der Abschottung verschrieben, selbst in einem liberalen Land wie Belgien müssen Flüchtlinge in Zelten auf der Straße nächtigen. Und in Frankreich wartet Marine Le Pen auf ihren Einsatz.
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