Die extremistischen jüdischen Siedler, die illegal Boden im Westjordanland besetzen und nicht davor zurückschrecken, Palästinenser gewalttätig zu vertreiben oder gar zu ermorden, müssen in Zukunft mit Einreiseverboten in den Westen rechnen. Die EU und die deutsche Bundesregierung wollen entsprechende Anordnungen durchsetzen.
Nach den vielen Solidaritätsadressen für Israel nimmt die deutsche Regierung und die EU-Bürokratie in Brüssel nun einen anderen Aspekt des Krieges in Gaza in den Blick – den parallel eskalierenden Konflikt zwischen jüdischen Siedlern und Palästinensern im Westjordanland. Die Gewalt dort habe „in letzter Zeit ein so erschreckendes Ausmaß angenommen, dass viele Familien ihr Zuhause aus Angst verlassen haben und es zu mehreren Todesfällen gekommen ist“, sagte kürzlich ein Sprecher des deutschen Außenministeriums. Israel sei aufgefordert, „Palästinenserinnen und Palästinenser von den Aktivitäten extremistischer Siedler zu schützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“. Berlin will nun auch selbst handeln, gemeinsam mit den anderen EU-Staaten und nach dem Vorbild der USA. Nachdem die Außenminister der Europäischen Union bei ihrem letzten Treffen dieses Jahr beendet hatten, trat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vor die Presse und erklärte, die Union bereite mögliche Sanktionen gegen gewaltbereite Siedler vor. Er werde den Mitgliedsländern einen Vorschlag unterbreiten, der sich am Vorbild ähnlicher Maßnahmen der USA orientierten.
Die US-Administration hatte bereits in Anfang Dezember Einreisesperren für gewaltbereite israelische Siedler verhängt, die „den Frieden, die Sicherheit oder die Stabilität im Westjordanland“ gefährdeten. Es gehe um „Dutzende“ Personen, hatte ein Sprecher des US-Außenministeriums erklärt. Die Betroffenen sowie ihre Angehörigen sollen, sofern sie nicht amerikanische Staatsbürger sind, nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen können. Bereits erteilte Visen sollen zurückgezogen werden, die Teilnahme am visafreien Einreise-Programm ESTA, das Israelis seit Kurzem wie auch deutsche Staatsbürger in Anspruch nehmen können, soll gesperrt werden.
Der Sprecher der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock hatte den Schritt gelobt und erklärt, es sei „wichtig, diese Debatte auch auf europäischer Ebene voranzutreiben“. Die Vereinten Nationen zählten seit dem Terroranschlag der palästinensischen Hamas-Miliz aus dem Gaza-Streifen vom 7. Oktober insgesamt 314 Angriffe von israelischen Siedlern im Westjordanland auf palästinensische Ziele. Damit habe sich die Zahl der Attacken im Vergleich zu der Zeit davor mehr als verdoppelt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums der Palästinensischen Behörde starben dabei 240 Palästinenser, zudem sollen vier Israelis getötet worden sein, drei von ihnen Angehörige der Sicherheitskräfte. Die palästinensische Seite wirft den Siedlern vor, sie wollten den Krieg in Gaza nutzen, um mithilfe ihrer Angriffe im Westjordanland Palästinenser zu vertreiben und ihre Siedlungen zu erweitern.
Noch in diesem Monat genehmigte die israelische Regierung die Errichtung von 1.700 weiteren Wohneinheiten in Ostjerusalem. Dennoch spricht sich die Regierung in Jerusalem klar gegen die Ausschreitungen aus. „Die israelische Regierung verurteilt die Gewalt“, sagte Regierungssprecher Eylon Levy. Jerusalem habe „null Toleranz für Bürger, die daran denken, das Recht in die eigene Hand zu nehmen oder sich an der Bildung von Milizen oder Akten des Vandalismus zu beteiligen“. Allerdings gehören der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit seinen Koalitionspartnern Bezalel Smotrych und Itamar Ben Gvir zwei Minister an, die selbst der Siedlerbewegung zugeordnet werden und auch in Siedlungen leben. Schon vor dem 7. Oktober wurden sie bezichtigt, die Ausschreitungen der Siedler zu fördern.
Ben Gvir hatte in der Vergangenheit gefordert, arabischstämmige Bürger Israels auszuweisen, wenn sie nicht loyal zum jüdischen Staat stünden. Smotrych forderte im Februar, ein palästinensisches Dorf „auszuradieren“, nachdem es in einer Vergeltungsaktion von Hunderten Siedlern angegriffen worden war, die Dutzende Verletzte und einen Toten hinterlassen hatten. Seit dem 7. Oktober gelten Smotrych und Ben Gvir als zumindest teilweise kaltgestellt.
Dem erweiterten Sicherheitskabinett, das Netanjahu nach dem Hamas-Angriff unter Beteiligung von Oppositionsführer Benny Gantz bildete, gehören die beiden Siedler-Minister nicht an. So scheint es, als habe sich in der israelischen Regierung eine unsichtbare Trennlinie gebildet zwischen den gemäßigteren Kräften um Netanjahu und Gantz und der Siedlerfraktion. Diese Entwicklung mag auch auf den internationalen Druck zurückzuführen sein und muss nicht bedeuten, dass Netanjahu auf Dauer mit der Siedlerbewegung gebrochen hat. Auf die Sanktionen des Westens reagierte die Regierung jedoch zurückhaltend bis zustimmend. „Leider gibt es Gewalt von Extremisten, die wir verurteilen müssen“, sagte Verteidigungsminister Yoav Gallant in einere Reaktion auf die amerikanischen Einreisesperren. „In einem Rechtsstaat, und Israel ist ein Rechtsstaat, liegt das Recht der Gewaltausübung bei denen, die von der Regierung dazu berechtigt sind.“ So betreiben letztlich beide Seiten in Sachen Westjordanland Balance-Politik. Der Westen – vor allem Staaten, die besonders eng an der Seite Israels stehen, wie die USA und Deutschland – zeigen mit den Sanktionen, dass sie bei allem Verständnis für den Krieg zur Vernichtung der Terrormiliz Hamas nicht blind sind für die Gewalt israelischer Siedler.
Israelis, Amerikaner und Europäer wissen gleichermaßen, dass im Westjordanland auch ein Konfliktpotenzial liegt, das die gegenwärtige Sicherheitslage dramatisch verschärfen und sogar zu einer Ausweitung des Konfliktes in der Region führen könnte. Im Westjordanland herrscht nominell die Palästinenserbehörde unter der säkularen und im Vergleich zur Hamas gemäßigten Palästinenserorganisation Fatah. Doch deren Autorität hat in den vergangenen Jahren erheblich gelitten, zum einen durch Korruptionsvorwürfe, zum anderen durch die teilweise Kooperation mit Israel im Zuge der Oslo-Friedensverträge, die auch die Gründung der Palästinenserbehörde vorsah. Israel nimmt auch die Steuern für die Behörde ein, blockiert aber mitunter die Weiterleitung von Mitteln mit dem Verweis, diese würden teilweise als Renten an die Hinterbliebenen getöteter palästinensischer Attentäter ausgezahlt. In jedem Fall ist die Behörde auch finanziell stark geschwächt. All das hat dazu geführt, dass die Hamas im Westjordanland an Einfluss gewonnen hat und sich Kampfgruppen gebildet haben, die von allen großen Palästinenserorganisationen unabhängig agieren. Zudem agieren vom Westjordanland aus immer wieder unorganisierte Einzeltäter. Darum ist es nicht auszuschließen, dass eine Eskalation der Gewalt in dem Gebiet außer Kontrolle gerät. Das könnte hier noch gefährlicher sein als in Gaza.
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