Die Bilder gleichen sich: In Berlin, Paris, Wien und zahlreichen weiteren europäischen Hauptstädten kamen nach dem Sturz des Asad-Terrorregimes Tausende Syrerinnen und Syrer zusammen, um gemeinsam den Machtwechsel in ihrem Heimatland zu feiern. Trotz winterlicher Kälte war die Stimmung überschwänglich.
Die meisten von ihnen dürften nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011 migriert sein, besonders ab 2014. Viele sind vor Bashar al-Asads Schreckensregime geflüchtet. Heißt das, dass sie jetzt, wo der Tyrann ausser Landes ist, so schnell wie möglich zurückkehren wollen – oder müssen? Die Frage beschäftigt in erster Linie die Nachbarstaaten Türkei, Libanon und Jordanien, in denen der Großteil der syrischen Flüchtlinge lebt und wo eine Rückkehrbewegung bereits eingesetzt hat. Aber auch in Westeuropa, wo über eine Million Syrer Zuflucht gefunden haben, gewinnt die Diskussion dramatisch an Aktualität, erst recht mit dem länderübergreifenden Erstarken von migrationskritischen Parteien.
Angesichts der volatilen Lage in Syrien und weil die ganze Region einem Pulverfass gleicht, sind Prognosen mit besonderer Unsicherheit behaftet. Wer hätte noch vor einem Monat den Sturz des Regimes vorhergesagt? Allein die Tatsache, dass sieben EU-Staaten unter der Führung von Italien und Österreich Mitte Oktober eine Normalisierung der Beziehungen zu Asad forderten, um Migranten einfacher zurückführen zu können, spricht Bände. Zur Erinnerung: 2011 hatte die EU den diplomatischen Kontakt eingefroren und Sanktionen beschlossen. Abschiebungen finden derzeit keine statt.
Nun nimmt der Druck aber zu, gegenüber Syrien einen radikalen Kurswechsel einzuleiten. Deutschland, Frankreich, Österreich, die Niederlande, Belgien und die Schweiz haben angekündigt, Entscheide über Asylanträge von Syrern bis auf weiteres auszusetzen – bis nämlich wieder fundiert geprüft werden kann, ob Asylgründe vorliegen. Der österreichische Innenminister Gerhard Karner habe sein Ministerium beauftragt, „ein geordnetes Rückführungs- und Abschiebeprogramm nach Syrien vorzubereiten“.
Die EU – die gemeinsame Standards festlegt, ohne jedoch die nationalen Asylverfahren zu vereinheitlichen – ist vorsichtiger. In Syrien habe nun eine Phase „der grossen Hoffnung, aber auch der grossen Unsicherheit“ begonnen, sagte ein Kommissionssprecher. Angesichts der galoppierenden Entwicklung sei es noch zu früh, die Auswirkungen des Regime-Kollapses auf die Migrationspolitik zu erörtern. Die Frage ist ohnehin, ob die Syrer eines Tages freiwillig nach Hause zurückkehren werden oder ob zumindest ein Teil von ihnen den Status der vorläufigen Aufnahme – je nach Land wird eine andere Terminologie verwendet – verliert und das Gastland also verlassen muss. Die EU-Kommission gibt sich überzeugt, dass „die meisten Syrer in der Diaspora davon träumen, heimkehren zu können“. Gleichzeitig bleibe man der Ansicht, dass die „Voraussetzungen für eine sichere und würdige Rückkehr nach Syrien aktuell nicht gegeben sind“, so der Sprecher.
Bevor über geordnete Rückführungen nach Syrien diskutiert werden kann, müssen zuerst die diplomatischen Beziehungen wieder geknüpft werden. Zusammen mit dem weiteren EU-Engagement im Ukraine-Krieg könnte der Umgang mit Syrien zu einem Test für die neue, mit viel Vorschusslorbeeren angetretene Außenbeauftragte Kaja Kallas werden. Sie verkündete, dass sie „in Syrien und der Region mit allen konstruktiven Kräften“ zusammenarbeiten werde.
Doch wer ist damit alles gemeint? Darüber scheint sich auch die EU-Führungsriege noch nicht im Klaren zu sein – insbesondere in Bezug auf die nun an die Macht gekommene Rebellenmiliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die auf einer Uno-Terrorliste steht und mit Sanktionen belegt ist. Die diplomatischen Kontakte, die Kallas pflege, könne er aus Vertraulichkeitsgründen nicht bekanntgeben, so der Sprecher. Mit der HTS sei man jedenfalls nicht im Gespräch.
Gleichzeitig lässt sich die EU eine Hintertüre offen, um rund um die brisante Migrationsfrage dennoch bald Gespräche mit der HTS aufnehmen zu können. Man werde die neuen Machthaber nicht nach ihren Worten, sondern nach ihren Taten bewerten, heisst es. Klar ist: Die neuen Machtverhältnisse werden die EU noch intensiv beschäftigen, sobald sich der Staub in Damaskus ein wenig gelegt hat.