Der jüngste Anschlag auf PKK-Funktionäre in Paris hat wieder einmal das Kurdenproblem in den Fokus Europas gebracht. Wiederholte Angriffe, besonders der nationalistischen „Grauen Wölfe“, in Europas Städten auf kurdische Kultureinrichtungen machen ebenfalls deutlich, dass der Westen sich endlich eindeutiger positionieren muss.
Ende letzten Jahres verübte ein französischer Attentäter einen rassistisch motivierten Anschlag auf ein kurdisches Kulturzentrum in Paris. Kurz darauf brachen schwere Ausschreitungen in der französischen Hauptstadt aus, europaweit organisierten sich Solidaritätskundgebungen, auf denen die Einzeltäterthese angezweifelt und die Türkei der Mitschuld oder gar der Urheberschaft bezichtigt wurde.
Unter den Opfern befand sich die Vorsitzende des „Demokratischen Kurdischen Rats“ (Conseil Démocratique Kurde), sie stammte aus einem türkischen Dorf im kurdischen Südosten des Landes. 1994, als im Zuge der Dorfzerstörungen durch das türkische Militär ihre Familie in das Flüchtlingslager Makhmur in den Irak floh, war sie in den Frauenkampfverbänden der PKK aktiv.
Erst nach dem Anschlag kurz vor Jahresende wurde publik, dass sie seit 2013 Mitglied im höchsten Führungsgremium der PKK war, dem zwölfköpfigen Exekutivrat, dessen Führung sich im irakischen Kandil-Gebirge aufhält. 2014 wurde sie nach Nordsyrien entsandt, wo sie in der Zivilverwaltung aktiv war und die Rettung und Versorgung der jesidischen Flüchtlinge aus Sindschar organisierte. 2019 wurde sie aus gesundheitlichen Gründen nach Europa geschickt.
Die Kurdische Arbeiterpartei PKK hatte sich ab 2005 – einem im Gefängnis verfassten Programm von PKK-Führer Abdullah Öcalan folgend – in mehreren Schritten umgewandelt und umbenannt. Die Organisation nennt sich seit 2007 „Gesellschaftsunion Kurdistan“ (KCK). Ihr untersteht unter anderem die in Brüssel ansässige neue Europa-Organisation „Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft in Europa“ (KCD-E).
Das seit mehreren Jahren in vielen Staaten der EU erlassene PKK-Verbot, weitere kurdische Organisationen sind damit einbezogen, hat viel Unheil gestiftet. Mit diesem Verbot folgten die Staaten seinerzeit dem Drängen des NATO-Partners Türkei. Doch trotz des Wandels, den die einst gewaltorientierte Kaderpartei PKK in Europa längst in Richtung einer friedlich-demokratischen Lösung des Konflikts vollzog, besteht das Verbot bis heute fort. Dies hat Zigtausende politisch aktiver Kurden hierzulande stigmatisiert und kriminalisiert — oft genug nur wegen verbaler oder symbolischer „Taten“ —, hat sie unter Generalverdacht gestellt, zu potentiellen Gewalttätern und gefährlichen „Terroristen“ gestempelt, zu innenpolitischen Feinden und Sicherheitsrisiken erklärt und ausgegrenzt. Offizielle Begründung: Die PKK, die sich in der Türkei gegen die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung auch militant zur Wehr setzt, nutze Europa „als Raum des Rückzugs, der Refinanzierung und Rekrutierung“.
Die Kriminalisierung hatte zeitweise eine dramatische Dimension erreicht: Für Kurden, die zumeist aus der Türkei vor Verfolgung und Folter geflohen waren, war es besonders in den 1990er Jahren fast unmöglich, von ihren elementaren Menschenrechten ohne Angst Gebrauch zu machen. Durch das Verbot wurden und werden nach wie vor die Grundrechte der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Meinungs- und Pressefreiheit und damit die freie politische Betätigung massiv beschränkt.
Die Zweifel an der Einzeltäterthese des letzten Anschlags in Paris sind jedoch nur teilweise in der grundsätzlich staatskritischen Einstellung der Kurden zu suchen. So soll die CDK-F vor einigen Monaten Polizeischutz beantragt haben und einige Beobachter behaupten, dass der Attentäter genau vor dem Treffpunkt des CDK-F-Lokals abgesetzt wurde und nur durch Zufall ein wichtiges Koordinationstreffen verpasst hätte.
Denn der Anschlag fand nämlich zum Zeitpunkt intensiver Vorbereitungsarbeiten für die alljährlichen Protestveranstaltungen Anfang Januar statt, auf denen die Kurden des Pariser Dreifachmords an kurdischen Aktivistinnen im Jahr 2013 gedenken und Hafterleichterung für Abdullah Öcalan fordern.
Angesichts dieser Serie verwundert es nicht, wenn sich kurdische Aktivisten schwertun, die Ermordung der Vorsitzenden des „Demokratischen Kurdischen Rats“, des vierten 2022 getöteten Mitglieds des Exekutivrats, als Anschlag eines Einzeltäters zu akzeptieren. Die Verbitterung und Wut richtete sich gegen den französischen Staat, der nach Ansicht kurdischer Aktivisten zu wenig zur Aufklärung der Attentate unternehme. Vor allem aber verlangen die Demonstranten Anerkennung und Unterstützung für Rojava und die Entkriminalisierung der PKK.
Aber nicht nur die französische Regierung wird von kurdischer Seite kritisiert, auch in Deutschland mehren sich Stimmen, die staatliche Stellen aufhorchen lassen sollten. Der türkische Geheimdienst MIT, der in letzter Zeit erheblich aufgerüstet wurde und auch polizeiliche Befugnisse hat, soll in Deutschland mit zahlreichen Agenten Oppositionelle und Regimekritiker sowie Vereine, Schulen und sonstige Einrichtungen in großem Umfang ausspionieren, ja sogar bedrohen. Nach Einschätzung von Sicherheitsexperten sollen es bis zu 6.000 Agenten und auch zahlreiche freiwillige Spitzel der nationalistischen türkischen Community sein, in deren Visier insbesondere angebliche Anhänger der PKK sowie der Gülen-Bewegung sind, die die türkische Regierung für den Militär-Putschversuch 2016 verantwortlich macht. Nachdem der Geheimdienst MIT dem bundesdeutschen Auslandsgeheimdienst BND 2017 schwarze Listen mit Hunderten von Ausforschungszielen übergeben hatte, darunter auch Firmen, sind manche Betroffene von hiesigen Sicherheitsbehörden in sog. „Gefährdeten-Ansprachen“ informiert und vor Repressionen und Reisen in die Türkei gewarnt worden.
In diesem Zusammenhang lässt die besorgniserregende Aussage eines Abgeordneten im türkischen Parlament aufhorchen, derzufolge eine Todesliste existiere, auf der die Namen von Kurden und anderen Oppositionellen stehen sollen, die aus der Türkei stammen und im europäischen Exil leben. Todeskommandos sollen bereits nach Europa geschickt worden sein, um Jagd auf sie zu machen. Sie erinnert daran, dass bereits 2013 in Paris drei kurdische Aktivistinnen von einem mutmaßlichen türkischen Verbindungsmann des MIT ermordet worden sind.
Der Mordanschlag von Paris fällt in eine Zeit, in der die Gesamtorganisation stark unter Druck geraten ist. Ankara kann seit einigen Jahren auf militärischer und diplomatischer Ebene Erfolge im Kampf gegen die Öcalan-Bewegung vorweisen. Ankaras Drohung eines Waffenganges gegen die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyrien führt regelmäßig zu Irritationen mit den USA, die jedoch als Teil eines größeren Interessensabgleichs zu sehen sind. Zugleich lotet Ankara in Moskau und Damaskus die Möglichkeiten eines Einmarsches aus, dem die Rückführung eines Teils der syrischen Flüchtlinge aus der Türkei folgen soll, um Präsident Erdogan im Wahlkampf 2023 den Rücken zu stärken. Ebenso benutzt die Türkei relativ erfolgreich die NATO-Beitrittsgesuche Schwedens und Finnlands, um die Regierungen der beiden skandinavischen Länder zur Revision ihrer kurdenfreundlichen Einstellung zu bewegen.
Migrationspositive Parteien in Europa müssen sich seither zwischen kurdischer Revolutionsromantik und türkischer Wahlarithmetik entscheiden. Und schließlich ist die Organisation auch in der internationalen Kurdenszene nicht unumstritten: In Rojava werden der Öcalan-Bewegung diktatorische Züge vorgeworfen, mit den kurdischen Nationalisten im Irak ist sie offen verfeindet, bei den kurdischen Islamisten verhasst und innerhalb der lebendigen Kurdenszene Irans isoliert.
Doch der diplomatisch-politische Druck hat nur so lange Sinn für die Türkei, wie Ankara in der Lage ist, militärische Erfolge vorzuweisen. Ausgehend vom Einsatz eigener Kampf- und Aufklärungsdrohnen wurde eine Neuaufstellung der Zusammenarbeit zwischen Geheimdienst und Jagdkampfkräften eingeleitet.
Auf nationalstaatlicher Ebene haben die europäischen Regierungen den politischen Narrativen, die von der Republik Türkei und der PKK vertreten werden, nichts entgegenzusetzen und damit viel an Gestaltungsmöglichkeit verloren. Die bisherige europäische Praxis, die PKK zu verbieten, gleichzeitig aber ihre europäischen Elemente gegen den Willen der Türkei still zu tolerieren, stammt aus einer Zeit, als der kurdisch-türkische Konflikt als Problem fernab des eigenen Verantwortungsbereichs wahrgenommen wurde. Erst im September 2017 hat übrigens ein belgisches Berufungsgericht entschieden, dass die PKK keine terroristische Organisation sei, sondern legitime Partei in einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in der Türkei, die PKK kämpfe für die Rechte der Kurden und terrorisiere keine Zivilisten — auch wenn es bei Angriffen auf militärische Ziele mitunter zivile Opfer gebe. Die PKK könne deshalb auch nicht als Terrororganisation eingestuft und mit Antiterror-Gesetzen verfolgt werden, genauso wenig wie deren Mitglieder und Unterstützer.
Das europäische PKK-Dilemma gilt nicht nur aufgrund der veränderten Demographie Mitteleuropas nicht mehr, auch der Syrien-Konflikt hat die Problematik zur europäischen Herausforderung werden lassen. So lässt sich nicht abstreiten, dass die syrischen Teile der Öcalan-Bewegung in Rojava mit ihrem Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) einen wichtigen Beitrag zur europäischen Sicherheit geleistet haben und bis zum heutigen Tage leisten: nämlich durch die Bewachung riesiger Flüchtlingslager in Nordsyrien, in denen sich zahlreiche europäische IS-Anhänger befinden. Ein Zusammenbruch Rojavas würde tausende IS-Anhänger freisetzen und eine Fluchtwelle in die Nachbarregionen und nach Europa auslösen.
Reduziert auf die in Europa priorisierte Flüchtlingsfrage ergäbe sich die Option, Rojava durch Direkthilfe im humanitären Bereich zu unterstützen. Allerdings wird jede Unterstützung auch als Stabilisierung des utopischen kommunistischen Projekts Rojava verstanden werden, abgesehen von der Tatsache, dass dadurch das Assad-Regime, über das die Hilfslieferungen laufen müssten, aufgewertet würde. Die Türkei hat schon mehrmals jeden Schritt der Europäer in diese Richtung abgelehnt und bezeichnet europäische und US-amerikanische Versuche, die syrischen Öcalan-Anhänger von der Führung in Kandil zu trennen, als naiv.
Während die türkischen, kurdischen, US-amerikanischen und syrischen Positionen in ihrer jeweiligen Logik nachvollziehbar sind, haben die Europäer bisher noch keine politische Vision für Nordsyrien entwickelt oder ihre Interessen abgewogen und die entsprechenden Handlungsableitungen formuliert.
Zweifellos ist die Quadratur des Kreises widersprüchlicher Interessen und ideologischer Positionen schwierig. Aber diese Problemstellung ist nicht neu und die Schüsse in Paris haben ihre Aktualität wiederholt unter Beweis gestellt. Ungeachtet des Resultats der polizeilichen und juristischen Aufarbeitung des Falles durch die Franzosen, sind die Europäer auf sicherheitspolitischer Ebene daher angehalten, ihre gemeinsamen Interessen zur Kurdenfrage endlich zu definieren.
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