Der Konkurrent Erdogans, versprach kürzlich der Bevölkerung, sollte er am 14. Mai zum Präsidenten gewählt werden, würden die Türken nach drei Monaten visafrei in die Europäische Union einreisen können. Dies ist natürlich Wunschdenken und ein wenig Wahlpropaganda, denn es gibt keinerlei Regierungsverhandlungen zwischen Brüssel und Ankara, was diese Frage betrifft.Der Herausforderer kündigte zudem an, er werde im Falle eines Wahlsiegs sein Bestes tun, um eine Wiederaufnahme der seit 2016 eingefrorenen Beitrittsgespräche zu erreichen. Der Präsidentschaftskandidat hat weitreichende Reformen zur Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie versprochen, wie die EU sie seit Langem fordert. Als erste Amtshandlung will er den Philanthropen Kavala und den kurdischen Spitzenpolitiker Demirtas aus dem Gefängnis entlassen, wie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verlangt.
Ein Sieg der Opposition würde zunächst einmal das Gesprächsklima zwischen Brüssel und Ankara qualitativ verändern, nur würde dies allein sicherlich nicht ausreichen, um die Beziehungen neu zu justieren. Es stellt sich zudem die Frage, was passieren würde, wenn die doch sehr hohen Erwartungen keine konkreten Ergebnisse liefern würden. Oder bestünde die Gefahr einer weiteren Entfremdung, wenn die hohen Erwartungen nicht erfüllt würden?
Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU würden wohl anfangs zu einer positiven Agenda zurückkehren, aber dann kommt schnell die Realität. Für Brüssel stehen, gerade was die Visaliberalisierung betrifft, Reformen im Bereich Antiterrorgesetzgebung und Datenschutz im Vordergrund. Beides könne zwar schnell das neu gewählte Parlament reformieren, aber beispielsweise das Zypernproblem würde ausreichen, um eine schnelle Annäherung an die EU zu verhindern. Im Konflikt mit Zypern würde ein neuer Präsident kaum von der Haltung seines Vorgängers abweichen. Das Gleiche gilt für die Streitigkeiten mit Griechenland um Inseln und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Wie Erdogan hat auch Kilicdaroglu früher schon gedroht, griechische Inseln in der Ägäis „zurückzuholen“.
Unter Oppositionspolitikern hört man dieser Tage oft die Ansicht, dass manche EU-Staaten auf einen Sieg Erdogans hofften, um nicht mit neuen Visa-, Beitritts- und Flüchtlingsfragen konfrontiert zu werden. Zu besprechen gibt es vieles: In ihren außenpolitischen Positionen hat sich die Türkei inzwischen meilenweit von der EU entfernt. Ein Beispiel sind die EU-Sanktionen gegen russische Öl- und Gaslieferungen. Die Türkei hat die Energieimporte aus Russland seit der Invasion in der Ukraine deutlich erhöht und sich als Umschlagplatz für russisches Gas angeboten. Kilicdaroglu hat für den Fall eines Wahlsiegs Kontinuität signalisiert. Die Türkei werde sich nur an UN-Sanktionen gebunden fühlen. Er sehe „keinen Grund“, die Politik gegenüber Russland zu ändern. Ebenso wenig wird erwartet, dass ein neuer Präsident die von der EU kritisierte türkische Militärpräsenz in Syrien beenden würde. Wie Erdogan betrachtet sein Herausforderer sie wohl als notwendig, um einen weiteren Flüchtlingszuzug und eine Stärkung der Terrorgruppe PKK zu verhindern. In der Syrienpolitik drängt Kilicdaroglu noch stärker als Erdogan auf einen Ausgleich mit Präsident Baschar al-Assad. Damit verbindet der Präsidentschaftskandidat Ankündigungen, Millionen syrische Flüchtlinge innerhalb von zwei Jahren in das Land zurückzuschicken.
Ein neuer Präsident würde sich wohl zu allererst im Stil und im Ton von der Außenpolitik seines Vorgängers unterscheiden. Das Oppositionsbündnis hat in einer mehr als 240 Seiten langen Vereinbarung zugesichert, das Außenministerium wieder aufzuwerten, das unter Präsident Recep Tayyip Erdogan an den Rand gedrängt wurde. Anstelle seiner personalisierten, populistischen Außenpolitik verspricht die Opposition stabilere, institutionell unterlegte Beziehungen.
Auch wenn Präsident Erdogan wiedergewählt wird, ist ein außenpolitischer Kurswechsel nicht ausgeschlossen. Im Laufe seiner zwanzigjährigen Regierungszeit hat er das mehrfach bewiesen. Manche Beobachter glauben, er könnte sich in seiner letzten Amtszeit als Versöhner und Friedensstifter inszenieren, um seinen Platz in den Geschichtsbüchern zu sichern.
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