Bei der Integration von Menschen aus anderen Kulturen ist nicht abzusprechen, dass die in den Westen gekommenen Muslime eine besondere Herausforderung darstellen. Bei der Analyse ist zunächst darauf zu achten, woher diese Konfliktlinien kommen, wo die sog. „Mehrheitsgesellschaft“ bislang versagt hat, wo die Politik, aber auch, welche Anforderungen wir in Europa an die Menschen stellen, die hier leben möchten. In Deutschland oder Österreich wird der in den staatlichen Schulen angebotene islamische Religionsunterricht von Lehrern und Lehrerinnen durchgeführt, die unter der Kontrolle der Islamverbände stehen, diese entziehen sich jeglicher staatlicher Kontrolle, da diese völlig autark arbeiten dürfen. Ähnlich verhält es sich mit den speziellen Koranschulen in Europa: Lehrer dürfen unterrichten, die durch ihre Ausbildung in muslimischen Staaten ein Weltbild haben, das den westlichen Werten widerspricht. Ein weiteres Problem sind, wie in der Türkei praktiziert, die sehr nationalisitisch und parteipolitisch geprägten Ausbildungspraktiken, welche einer neutralen und kritischen Auseinandersetzung mit Religion widersprechen.
Viele staatliche Stellen in Europa haben ein viel zu unkritisches Verhältnis zu den Islamverbänden. Dieses Verhalten legitimiert und stärkt sie innerhalb und ausserhalb ihrer Communities, schwächt aber gleichzeitig die Stimmen derjenigen, die schon seit langem Reformen innerhalb des Islam in Europa einfordern. Es ist gerade nicht irrelevant, die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus im politischen und gesellschaftlichen Kontext zu machen, da die Unterscheidung zwischen der Religion Islam und dem politischen Islamismus gerade darauf hinweist, dass es einerseits Muslime in Europa gibt, die die westlichen Werte und Normen in ihre Religion adaptiert haben, während andere genau das Gegenteil propagieren: Der Islam ist a priori die Werteordnung von Individuum und Gesellschaft, daneben kann es keine andere Normsetzung geben.
Die Islamverbände sind nicht daran interessiert, dass sich hier lebende Muslime mit Europa und seinen Werten identifizieren, denn sie können nur dann, in ihrer eingeschränkten Sichtweise, ihre Legitimität finden durch die angebliche Kluft zwischen Muslimen und den europäischen Werten. Eine ganze islamische Ökonomie hat sich um diese Kluft gebaut: Islamic Banking, Pilgerfahrt-Tourismus, Halal-Essen, Halal leben usw. Die Angst konservativer Muslime vor der vermeintlich sündhaften europäischen Lebensweise ist das Kapital dieser Verbände. Es liegt nicht im Interesse der Erdogans, Al-Qaradawis dieser Welt, dass sich die hier lebenden Türken oder Araber als Europäer fühlen. Vielmehr ist es ein probates Mittel, Politik und Interessen auch hierzulande durchzusetzen. Daher auch das Interesse und das Lobbying bei staatlichen Strukturen, die Oberhoheit über Islam-Unterricht, Imam-Ausbildung nicht aus der Hand geben zu müssen.
In Europa leben viele Millionen friedlicher Muslime, die nichts für das können, was islamistische Bewegungen hier predigen und an junge Menschen versuchen weiterzugeben. Dies muss immer wieder gesagt werden. Es ist die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, diese Muslime als loyale Staatsbürger anzuerkennen, sie nicht als Fremde zu behandeln und sie sowohl vor Diskriminierung und Rassismus als auch vor der Ideologie des Islamismus zu schützen. Dies gelingt aber nur durch Bildung, Aufklärung und kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe. Diese Muslime sollte man fördern und jene bekämpfen, die im Namen ihrer Religion politisch Einfluss zu gewinnen suchen und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Islam mit Rassismus gleichsetzen. Denn genau diese Rhetorik wird vermehrt von Vertretern des politischen Islamismus genutzt. Sie versuchen mit diesen Mitteln, jegliche kritische Auseinandersetzung mit islamistischen Tendenzen in den europäischen Gesellschaften durch diese „cancel culture“ im Keim zu ersticken, sich als diskriminierte Opfer darzustellen, sich zu vergleichen mit der „Black Lives Matter“-Bewegung. Abgesehen davon, dass der Vergleich unzulässig ist, wird er in vielen Kreisen des politischen Islamismus verstärkt angewendet und oft von liberalen und linken Kreise innerhalb der öffentlichen Diskursen solidarisch aufgenommen und geteilt. Besonders interessant ist es zu sehen, dass genau jene Vertreter des „Wir sind die armen Opfer in einer europäischen Gesellschaft, die uns verfolgt“ nie ein kritisches Wort erheben gegen autoritäre, totalitäre, patriarchale Strukturen vieler Islamverbände in Europa, sich nicht äussern zum Widerspruch der immanenten Auslegung religiöser Schriften in einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Mittlerweile gibt es genug Initiativen und Programme zur Errichtung islamisch-theologischer Zentren, die einen reformierten und kritischen europäischen Islam fördern. Die mächtigen Islamverbände in ihrer Mehrheit lehnen es aber ab, Absolventen dieser Hochschulen als Lehrer oder Imame anzustellen. Sie sorgen weiterhin dafür, dass die fortschrittlichen Kräfte nicht unterstützt werden, weil diese die politische und ideologische Ausrichtung der Verbände bedrohen. Genau hier müsste die Politik ansetzen. Europa muss die Reformkräfte innerhalb der islamischen Gemeinschaften fördern und diese vor der Hetze der Islamisten schützen. Der Sprecher des größten deutschen islamischen Verbandes sagte bei der deutschen Islamkonferenz 2018 öffentlich, die Reformtheologen, ausgebildet an europäischen Universitäten, würden die Standards seiner Organisation nicht erfüllen. Die Reaktion der deutschen Politik auf diese Absage war gekennzeichnet von Schweigen, fehlender Unterstützung für die Vertreter eines Islams des 21. Jahrhunderts und weitere Förderung der alten Verbandsstrukturen.
Aufklärung, auch im Islam, ist heute notwendiger denn je! Bassam Tibi, ein bekannter Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum meint dazu: „Europa könnte heute dadurch seinen Dank für die damaligen rationalen Impulse von den arabischen Philosophen abstatten, indem es versucht, dem Islam jenen Rationalismus zurück zu vermitteln, den es seinerzeit von dieser Seite empfangen durfte. Aber dazu braucht es auch die Bereitschaft auf der anderen Seite, und die Bedingungen hierfür sind zurzeit alles andere als günstig.“
Europäische Politiker sagen häufig genug, Muslime müssten diese Reformen selbst durchführen und dürften nicht von außen dazu gedrängt werden, doch sie halten sich dabei nicht an die gebotene Neutralität der Politik gegenüber Religion. Wenn sie dies nämlich täten, würden sie die reaktionären Kräfte des Islam in Europa nicht fördern, ihnen eine wichtige Stimme geben, ihre Projekte im „Namen der Toleranz und Vielfalt“ nicht weiter finanzieren.
Wenn Europa einen Islam des 21. Jahrhunderts nicht offen unterstützen will, dann sollte es zumindest auch nicht der Fall sein bei deren Feinden. Dies schließt natürlich nicht den offenen, aber kritischen Dialog mit allen islamischen Gruppierungen aus, er muss jedoch ergebnisoffen und unparteiisch erfolgen. Zudem ist es dringend notwendig, den Dialog nicht theologisch zu betrachten. Die klare Konfliktlinie ist die säkulare Welt. Daher muss er sich auf Fragen des Zusammenlebens konzentrieren. Ein Wertekonsens bedeutet nicht, einen Mittelweg zwischen Religion und Freiheit zu finden. Die Freiheit sollte der Schirm sein, unter dem auch die Religion existieren darf. Derzeit fungiert die Religion in muslimischen Communities aber eher wie ein Schutzschild gegen die Freiheit.
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