Die Mehrzahl der EU-Mitgliedstaaten begreift mittlerweile Fragen der Migration als ernsthafte Gefahr für den Zusammenhalt der Europäischen Union. Rechte Populisten werden in den Kernstaaten der Gemeinschaft immer stärker, bei anderen Mitgliedern sitzt die Rechte bereits mit am Regierungstisch.
103 Millionen Flüchtlinge sind es weltweit. So viele Menschen haben ihre Heimat verlassen, weil sie gewaltsam vertrieben wurden. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schließt in dieser Summe Flüchtlinge, Asylsuchende, Binnenvertriebene und andere schutzbedürftige Menschen ein. Dass die Zahl der Vertriebenen in den vergangenen Jahren in die Höhe geschossen ist, hat spürbare Folgen. Viele Aufnahmeländer fühlen sich überfordert und es wird immer deutlicher, dass der Westen seine Asylpolitik völlig neu denkt.
„Viele langanhaltende Konflikte werden nicht gelöst. Gleichzeitig entstehen zusätzlich neue Konflikte“, UNHCR. Die meisten Vertriebenen suchten ohnehin nicht in der Ferne Schutz, sondern in der Nähe einer Konfliktregion. Daran knüpft der Migrationsforscher Ruud Koopmans an, mit dem MENA Research Center ein Gespräch führen konnte: „Wer Asyl beantragen will, muss sich erst nach Europa durchschlagen“, sagt er. „Wer wiederum einmal in Europa ist, bleibt auch. Selbst dann, wenn man nicht als Flüchtling anerkannt wird. Das ist ungerecht. Denn jeder, der es nicht schafft, den langen Weg nach Europa zu gehen, bleibt außen vor. Also Frauen, Alte, Kranke.“ Koopmans spricht daher von einer „Asyllotterie“. So heißt auch der Titel seines Buchs, das jüngst veröffentlicht wurde.
Die Innenminister der EU haben nun in Luxemburg ein neues Paket geschnürt, welches einen rigiden Migrationskurs zur Folge haben könnte. Die Vorschläge müssen allerdings noch das EU-Parlament passieren, das gleichberechtigt mitentscheidet. Das Parlament vertritt in mehreren Punkten weichere Positionen. Ziel ist es, bis zur Europawahl im Juni 2024 einen Rechtstext zu beschließen, der dann 2025 in Kraft treten kann. Formell hat sich der Rat der Mitgliedsländer über seine Position zu zwei von der Kommission vorgelegten Gesetzentwürfen geeinigt, das EU-Parlament hat das bereits im März getan. Somit kann nun der Trilog beginnen, also die finale Verhandlungsrunde zwischen den drei EU-Institutionen. Dabei dürfte sich an den Grundzügen der Asylreform nichts mehr ändern. Aber in Einzelheiten – Familien im Schnellverfahren zum Beispiel – dürfte es noch heftige Debatten geben. Bis Ende des Jahres soll eine Einigung stehen.
Die Mitgliedstaaten haben seit acht Jahren an einer Reform gearbeitet. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise beschlossen sie verbindliche Quoten, um Griechenland und Italien zu entlasten, dies wurde aber nie richtig umgesetzt. 2016 und dann wieder 2020 legte die Kommission neue Gesetzentwürfe vor. Es ging darum, die Interessen der Außengrenzstaaten und jener Staaten, die wie Deutschland von Sekundärmigration betroffen sind, so auszutarieren, dass wieder ein funktionierendes Gesamtsystem entstehen kann. Also eine Balance von Solidarität und Verantwortung. Jeder Staat suchte für sich günstigere Bedingungen, wenige waren zu echter Solidarität bereit – aber fast alle wollten die Regeln verschärfen, um Migranten ohne Asylanspruch abzuschrecken. Deutschland versuchte sich dem bis zuletzt entgegenzustellen, knickte aber zu guter letzt ein. Gegen den Beschluss stimmten Ungarn und Polen, während sich Bulgarien, Litauen, Malta und die Slowakei enthielten.
Zwölf Stunden verhandelten die 27 Innenminister der EU, und was die Mitglieder der Runde als Ganzes antrieb, waren zwei Ziele: die Zahl der Geflüchteten reduzieren und mehr Fairness unter den EU-Staaten erreichen. Kritiker beklagen, dass ein drittes Ziel, eine halbwegs humane Aufnahmepolitik, damit bewusst aufgegeben worden sei. Die Asylregeln der Europäischen Union sind drastisch verschärft worden, heißt es nun. Doch was bedeutet das konkret? Was ist der Kern des Kompromisses, der in Luxemburg verhandelt wurde? Was ändert sich, und was bleibt wie bisher?
Noch vor dem Innenministertreffen war es fraglich, ob die Regierungen eine gemeinsame Linie finden könnten, zu gegensätzlich schienen die Positionen beispielsweise von Deutschland und Polen gewesen zu sein. Um einen bindenden Beschluss zu fassen, mussten 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Bevölkerung vertreten, zustimmen. Ungarn und Polen allein konnte ihn also nicht blockieren. Besonders wichtig war von Beginn an allerdings Italien: Ohne Zustimmung von Regierungschefin Giorgia Meloni konnte nichts beschlossen werden, so das allgemeine Verständnis, denn Italien wird hauptsächlich von den neuen Regeln betroffen sein.
Geplant sind nun zwei Gesetze, die mit den englischen Abkürzungen APR (asylum procedure regulation) und AMMR (asylum and migration management regulation) beschrieben werden. Das erste Gesetz regelt die Erfassung der Geflüchteten an den EU-Außengrenzen. Das zweite Gesetz zielt auf die Verteilung der Asylsuchenden über die einzelnen EU-Staaten.
Neues Grenzverfahren
Vorgesehen ist das neue Verfahren für jene Geflüchteten, die nach Ansicht der EU aus sicheren Herkunftsländern kommen, also zum Beispiel aus den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien. Ein Kriterium dafür, auf welche Personen das Schnellverfahren angewandt werden soll, ist die bisherige Anerkennungsquote für das jeweilige Herkunftsland. Liegt sie bei weniger als 20 Prozent, soll das Schnellverfahren greifen. Allerdings sollen die neuen EU-Asylregeln stufenweise eingeführt werden. Zunächst, so ist aus Brüssel zu hören, gehe man von 30.000 Plätzen aus, die für Schnellverfahren zur Verfügung stehen. Das ist nur ein kleiner Teil der in Europa ankommenden Menschen. Etwas mehr als 880.000 Erstanträge auf Asyl wurden im vergangenen Jahr in der EU gestellt. Ausgenommen sind nur unbegleitete Minderjährige, nicht auch Familien mit Kindern. Das Verfahren soll nach zwölf Wochen abgeschlossen sein, einschließlich eines Rechtsmittels gegen den Bescheid. Das ist möglich, weil viele Anträge als unzulässig abgewiesen werden können.
Auf eine Auslagerung der Asylverfahren haben sich die EU-Innenminister in Brüssel zwar nun nicht geeinigt, wohl aber auf Schnellverfahren an der Außengrenze für Migranten mit geringer Aussicht auf Anerkennung. „Zentral für jedes funktionierende Asylsystem sind generell faire und effiziente Asylverfahren“, sagt der UNHCR. „Effizient heißt auch, dass es zügig gehen sollte – sowohl im Interesse der Schutzsuchenden als auch im Interesse der Staaten.“ Aber: „Bei den derzeitigen EU-Plänen, Grenzverfahren zu etablieren, wäre es wichtig, dass Garantien eingehalten werden. Dass es eine faire Möglichkeit gibt zur Widerlegung von Sicherheitsvermutungen. Dass es faire Beratungsmöglichkeiten gibt.“
Internierungseinrichtungen
Während des Grenzverfahrens sollen die Bewerber in bewachten und geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden, damit sie nicht illegal weiterreisen. Zulässig ist eine Freiheitsbeschränkung, aber kein Freiheitsentzug. Wer will, kann jederzeit wieder in ein Land außerhalb der EU ausreisen. Während des Aufenthalts gelten die Personen als nicht eingereist. Das wiederum erleichtert ihre Abschiebung. Wird ihnen Schutz versagt, können sie bis zur Rückführung weitere drei Monate unter haftähnlichen Bedingungen interniert werden. Danach muss ihnen die Einreise gewährt werden.
Alle EU-Staaten sollen zusammen 30.000 Plätze für Grenzverfahren einrichten. Der Anteil jedes einzelnen berechnet sich aus den illegalen Einreisen und Zurückweisungen im Schnitte der letzten drei Jahre. Dabei entfallen auf Ungarn, wegen seiner Lage an der Westbalkanroute, rund 8.500 Plätze, auf Italien 6.200, auf Spanien 3.500 und auf Griechenland 1.700 Plätze. Angestrebt wird eine volle Auslastung: Wenn ein Verfahren drei Monate dauert, könnten also 120.000 Personen pro Jahr untergebracht werden. Die Mittelmeerländer setzten durch, dass die Kapazität schrittweise aufgebaut wird: 30.000 Menschen im ersten Jahr, 60.000 im zweiten, 90.000 im dritten Jahr nach Inkrafttreten der Verordnung, dann 120.000. Wird die Zahl tatsächlich überschritten, werden die Bewerber ins reguläre Asylverfahren aufgenommen.
Tatsächlich ist eine offene Frage, wo die Schnellverfahren stattfinden sollen. Wo würde etwa Italien ein Zentrum errichten, in denen Migranten, die kaum Aussicht auf Asyl haben, mehrere Wochen lang untergebracht werden sollen? Wie würde die Lokalbevölkerung reagieren? Und wie hätten NGOs und Anwälte Zugang zu diesen Migranten? Zumal es sich dann um haftähnliche Bedingungen handeln soll. „Man darf nie aufgrund seines Asylgesuchs inhaftiert werden. Wenn Menschen neu ankommen und die Identitätsprüfung vorgenommen wird, das wäre so ein typischer Haftgrund für eine kurze Zeit, aber das muss immer verhältnismäßig sein. Es gibt vulnerable Gruppen, die man von Haft ausnehmen sollte, wie etwa Kinder, erkennbar traumatisierte Personen. Haft kann auch nur zulässig sein, wenn Alternativen zur Haft nicht hinreichend sind,“ so UNHCR.
Keine Verpflichtung zur Übernahme von Asylbewerbern
Solidarität ist Pflicht, nicht aber die Übernahme von Personen. Staaten können stattdessen 20.000 Euro pro Person zahlen, die sie nicht übernehmen. Das liegt eher an der Untergrenze der realen Kosten, aber über den 10.000 Euro, die Österreich und andere in den Verhandlungen durchsetzen wollten. Das Geld soll dem zu entlastenden Mitgliedstaat helfen, indem es in einen Fonds fließt, der von der EU-Kommission verwaltet wird. Das war Italien besonders wichtig – es will nicht als Bittsteller auftreten. Die Details müssen noch ausgearbeitet werden. Konkret bedeutet das, dass die Kommission ihre Machtmittel einsetzen kann, um säumige Solidaritätsbeiträge einzutreiben. Das ist wichtig, weil Polen, Ungarn und die Tschechische Republik schon erkennen ließen, dass sie keine „Strafzahlungen“ leisten wollen.
Italien, Griechenland und Spanien müssen die meisten Asylverfahren schultern, daran wird sich auch künftig wenig ändern. Allerdings haben die südlichen EU-Länder eine Verbesserung erreicht: Wenn die Zahl der Geflüchteten so stark steigt, dass geordnetes Abarbeiten der Anträge nicht mehr zu leisten ist, dann sind die anderen EU-Staaten künftig zur Hilfe verpflichtet. Eine noch genau festzulegende Anzahl Schutzsuchender wird über einen Schlüssel auf die gesamte EU verteilt. Zuletzt war die Rede von 30.000 Menschen pro Jahr. Wesentliche Kontingente von Asylbewerbern werden aber vermutlich zunächst nur Deutschland und Frankreich aufnehmen.
Es gibt Länder wie Polen und Ungarn, deren rechtspopulistische Regierungen die Aufnahme von Geflüchteten aus Prinzip ablehnen. Viele andere Staaten werden erst einmal abwarten, ob durch die neuen Verfahren die Zahl der eintreffenden Migranten wirklich sinkt. Sie werden sich erst einmal von der Verpflichtung freikaufen. Im Raum steht ein Betrag von etwa 20 000 Euro pro geflüchteter Person.
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten
Im Regelfall können Asylbewerber, die weiterreisen, binnen sechs Monaten in das zuständige Land rücküberstellt werden. Unter Umständen kann diese Frist auf maximal drei Jahre verlängert werden, bei Personen, die aus Seenot gerettet wurden, auf ein Jahr. Die Überstellung selbst soll einfacher werden als bisher, weil Personen in einer Datenbank genauer erfasst werden. Bei ordnungsgemäßer Registrierung reicht dann ein Blick, um festzustellen, welcher Staat zuständig ist, und ein schnelles Übernahmegesuch.
Abweisung von Migranten
Wer in der EU um Schutz bittet, hat Anrecht auf eine individuelle Prüfung. Allerdings wollen die Staaten dies abkürzen, indem sie mit sicheren Drittstaaten Abkommen zur Übernahme von Migranten treffen. Der nun beschlossene Rechtstext sieht wie bisher vor, dass eine Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem betreffenden Drittstaat besteht, aufgrund der es „zumutbar“ wäre, ihn dorthin zu bringen. Neu ist, dass jeder Mitgliedstaat selbst auslegen kann, worin die Verbindung besteht. Es reicht ein nicht näher bestimmter Aufenthalt, dies könnte auch eine Durchreise sein. Der Asylbewerber kann zwar gegen die Ablehnung seines Antrags Einspruch erheben, dies hat aber keine aufschiebende Wirkung.
Die EU soll eine Liste von sicheren Drittstaaten aufstellen, aber die Mitgliedsstaaten können unabhängig davon selbst Drittländer als sicher erklären. So geschieht es bisher schon. Deutschland etwa listet nur Norwegen und die Schweiz als sichere Drittstaaten, Spaniens Justiz betrachtet Marokko und die meisten Länder Lateinamerikas als solche, Griechenland für Flüchtlinge aus Syrien und weiteren Ländern auch die Türkei – trotz Befürchtungen, diese könnten von türkischen Behörden in ihre Verfolgerländer verfrachtet werden.
Wird der Asylantrag abgelehnt, soll die betreffende Person – möglichst innerhalb einer weiteren Frist von ebenfalls zwölf Wochen – abgeschoben werden, und zwar direkt aus dem Lager. Alle verfügbaren Daten sollen künftig bereits beim Ankommen in der EU zentral erfasst und gespeichert werden, das ist ein weiterer wichtiger Punkt der Einigung. Ziel ist es, die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in geeignete Länder zu erleichtern – die EU spricht da von sogenannten sicheren Drittstaaten. Als möglicher Drittstaat ist etwa Tunesien im Gespräch. Dessen Präsident Kaïs Saïed fiel allerdings zuletzt dadurch auf, gegen afrikanische Migranten in seinem Land zu hetzen. Saïed sagte, diese unterwanderten sein Land und nähmen Tunesien die arabische Identität.
Neu ist nun, dass die EU die Anforderungen senkt, nach denen Drittländer für sicher erklärt werden können. So soll das künftig auch für Teile eines Landes gelten und für Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet haben. Damit könnte etwa Italien, wenn auch unter Streckung der Regeln, Teile von Libyen zum sicheren Drittstaat erklären und Asylbewerber ohne inhaltliche Prüfung ihrer Gesuche dorthin zurückschicken. Wie bisher schreibt die EU jedoch vor, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem abgelehnten Asylbewerber und dem Land geben muss, in das er zurückgeschickt wird. Der Kompromiss sieht vor, dass die EU-Staaten quasi nach Gutdünken selber bestimmen können, was die Verbindung ist – zum Beispiel selbst eine nur kurzzeitige Durchreise.
Kritik an den Beschlüssen
Nichtregierungsorganisationen warnen angesichts der Pläne der Europäischen Union bereits vor einer Krise der Menschlichkeit und der Menschenrechte. Amnesty International befürchtet etwa, dass es für Geflüchtete künftig deutlich schwerer werden könne, einen Asylantrag zu stellen.
Das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer geht derweil unvermindert weiter. Zuletzt traten wieder mehr Menschen die äußerst gefährliche Flucht auf Booten an. Nach Angaben der italienischen Regierung kamen seit Januar mehr als 50.000 Migranten über den Seeweg nach Italien. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge starben in diesem Zeitraum bei Überfahrten mehr als 980 Menschen oder werden seither vermisst. Auch auf anderen Wegen kommen wieder mehr Menschen nach Europa. In Deutschland wurden in den ersten vier Monaten dieses Jahres gut 100.000 Asylerstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegengenommen, das entspricht einer Zunahme um fast 80 Prozent.
Nach der Festsetzung des deutschen Rettungsschiffs „Sea-Eye 4″ in Italien kritisiert der Chef der Betreiberorganisation die Behörden hart. Dies sei ein weiterer, verwerflicher Versuch, die Seenotrettung und die Flucht selbst zu kriminalisieren, um immer brutaleres, staatliches Agieren zu rechtfertigen“, sagt er. Neben der Sea-Eye 4, die für 20 Tage im Hafen von Ortona festgesetzt wurde, wird auch das deutsche Schiff „Mare Go“ im Hafen von Lampedusa festgehalten.
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