Von Andras Balffy, Brüssel
Fünf Monate können eine Ewigkeit sein. Nirgends zeigt sich dies derzeit so augenfällig wie bei der europäischen Migrationspolitik. Erst im Frühling verabschiedeten die EU-Staaten mit viel Brimborium den Migrations- und Asylpakt. Er ist noch nicht einmal umgesetzt, aber bereits jetzt erscheinen wesentliche Elemente überholt. Am EU-Gipfel in Brüssel hat sich jedenfalls gezeigt, dass eine Mehrheit der 27 Mitgliedsstaaten deutlich weiter gehen will, als es der Pakt vorsieht. Die Migration war das Thema, das die Staats- und Regierungschefs am längsten und am heftigsten diskutiert haben.
Verbindliche Entscheide wurden nicht gefällt, zunächst stand noch nicht einmal fest, ob sämtliche Mitgliedsstaaten die Schlusserklärung unterzeichnen werden. Polen äusserte dem Vernehmen nach Vorbehalte, weil es seine kürzlich angekündigte Einschränkung des Asylrechts verbrieft haben wollte. Zudem betonten Staaten wie Spanien, Belgien oder Luxemburg angesichts der demografischen Aussichten Europas auch die Chancen, welche die Einwanderung biete.
Aber der allgemeine Tenor der Diskussionen war klar: Das europäische Asylrecht soll strenger, verbindlicher und effizienter werden. Angesichts der länderübergreifenden Wahlerfolge von rechten Parteien wird plötzlich salonfähig, was noch vor wenigen Jahren als Tabubruch galt. Ziel ist einerseits, dem heimischen Publikum Handlungswillen zu demonstrieren. Andererseits soll das Signal in die Welt gesendet werden, dass sich potenzielle Wirtschaftsflüchtlinge gar nicht erst auf den Weg machen sollten. Ein Beobachter sprach – in Anlehnung an die seit je kompromisslose Migrationspolitik des ungarischen Ministerpräsidenten – von einer „Orbanisierung“ Europas.
Das Zauberwort des Moments heisst „innovative Lösungen“. Es sollen neue Wege gefunden werden, damit weniger Asylbewerber europäischen Boden betreten – und diejenigen ihn schnellstmöglich wieder verlassen, denen kein Aufenthaltsrecht erteilt wurde. Nur wie? Der umstrittenste Punkt in der Diskussion sind sogenannte „Return Hubs“, also Rückkehrzentren in sicheren Drittstaaten. Dorthin sollen Asylbewerber geschickt werden, deren Gesuch abgelehnt wurde, deren Heimatstaat sie aber aus verschiedenen Gründen nicht zurücknimmt. Die Niederlande, deren neue Regierung in den letzten Wochen verschiedentlich eine harte Haltung an den Tag gelegt hat, ist nun auch in dieser Frage vorgeprescht: Eine Ministerin reiste nach Uganda, um dort die Möglichkeiten zur Errichtung eines solchen Zentrums auszuloten. Den Niederlanden schwebt vor, Personen „aus der Umgebung“ des ostafrikanischen Staats dorthin abzuschieben.
„Es ist ein ernsthafter Plan, aber er muss noch ausgearbeitet werden“, sagte daraufhin der Ministerpräsident Dick Schoof in Brüssel. Die Niederlande sehen sich in Migrationsfragen als Vorreiter: Im Vorfeld des EU-Gipfels organisierte die Vertretung, mit Italien und Dänemark, ein informelles Treffen von ähnlich gesinnten Staaten. Elf Regierungschefs nahmen teil. Man wolle das Format gerade im Hinblick auf das Gipfeltreffen im Dezember, bei dem konkrete Entscheide fallen könnten, beibehalten, sagte ein beteiligter Diplomat.
Eine „innovative Lösung“ könnten auch Rückschaffungen nach Syrien sein, aus dem im Zuge des Bürgerkriegs mehrere Millionen Bürger ins Ausland geflohen sind. Weit über zehn Jahre lehnten die EU-Staaten Verhandlungen mit dem Assad-Regime ab – doch werden die Einwände jetzt neu bewertet. Eine Handvoll Staaten hat schon im Frühling angeregt, die Sicherheitslage in Syrien neu zu beurteilen und Abschiebungen zu ermöglichen. Der österreichische Kanzler Karl Nehammer sagte im Vorfeld des EU-Gipfels, dass der Nahoststaat in vielen Bereichen jetzt wieder „dokumentiert sicher“ sei.
Beim Treffen der migrationskritischsten Länder saß auch die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen am Tisch. Sie hatte bereits vorher den argumentativen Teppich für eine Verschärfung des Asylsystems ausgelegt. In einem Schreiben zuhanden der Mitgliedsstaaten bezeichnet sie die Rückkehrzentren in Drittstaaten als „möglichen Vorwärtsschritt“. Auch gegenüber dem Albanien-Modell zeigt sie sich offen. Italien hat ein Asylzentrum in dem Balkanstaat in Betrieb genommen. Dorthin werden Migranten geschafft, die in internationalen Gewässern aufgegriffen wurden.
Skeptischer zeigt sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. Konzepte, wie sie Italien nun in Albanien anwende, seien für Deutschland „nicht wirklich die Lösung“, weil so nur eine verhältnismässig kleine Anzahl von Asylverfahren ausgelagert werden könne. Wichtiger sei, dass der beschlossene Migrationspakt – der einen verstärkten Schutz der Aussengrenzen beinhaltet – nun schnellstmöglich umgesetzt werde.
Zum Uganda-Vorschlag der Niederländer äusserte sich Scholz nicht explizit. Bei diesem stellt sich die Frage der logistischen und rechtlichen Umsetzbarkeit noch verstärkt. Der ugandische Aussenminister sagte gegenüber Reuters, er gehe nicht davon aus, dass seine Regierung ein grosses Zentrum akzeptieren werde. Bereits jetzt lebten 1,6 Millionen Flüchtlinge aus umliegenden Staaten in seinem Land.