Egal, ob in Paris, Hamburg, Brüssel: Rufe bei Demonstrationen islamistischer Gruppen sind klar und deutlich zu interpretieren. „Allahu akbar!“ rufen sie aus ihren Megafonen oder den Bühnen herunter, sie schreien Warnungen an die westlichen Gesellschaften heraus, man solle vorsichtig sein den Islam zu kritisieren, denn er werde bald die vorherrschende Lehre auch in Europa sein. Bei friedlichen Veranstaltungen der LGBTQ+ Community werfen sie Flaschen, spucken auf die Herzen mit den Regenbogenfarben und verspotten die Freiwilligen. Attacken gegen Schwule und Lesben gab es zuletzt in der belgischen Stadt Genk. Ein Video mit den „Allahu akbar“-Rufen ist unter anderem von der französischen Zeitung „Le Figaro“ publiziert worden, in deutschsprachigen Medien gab es wenig Resonanz, natürlich nur so lange, bis hunderte Extremisten des Islam in Hamburg für einen Skandal sorgten. In Genk und in allen anderen Städten geht es um ein Phänomen, das in den meisten europäischen Einwanderungsgesellschaften zu beobachten ist: Muslimische Apologeten, die sich unter Berufung auf ihre kulturelle und religiöse Identität über andere stellen und die offene Gesellschaft ablehnen.
Dieser radikal-konservative Backlash schlägt nicht selten in Mobbing und Gewalt um, gerade bei jungen Menschen. Es geht um Verachtung von sexuellen Minderheiten, Frauen, Juden, „Ungläubigen“ und Muslimen, die angeblich nicht muslimisch genug sind; um Proteste gegen Weihnachtslieder, das Recht auf Religionskritik oder Unterrichtsthemen, die manchen Schülern nicht genehm sind. Von Einzelfällen kann man kaum noch sprechen – und der Umgang mit dem Problem ist von gefährlicher Naivität geprägt.
Überall in Europa ist ein Trend zu einem konservativen, zuweilen radikalen Islam zu beobachten. Gefördert werden diese Tendenzen in Teilen der muslimischen Bevölkerung von Aktivisten, Influencern und islamischen Staaten wie Katar, die in Europa Moscheen und Vereine finanzieren. Wissenschaftler sprechen mittlerweile von einem sogenannten „Theo-Populismus“, der die Welt in „halal“ (erlaubt) und „haram“ (nicht erlaubt, unrein) einteilt.
In Frankreich, wo fünf bis zehn Millionen Muslime leben und der Staat eine strenge Laizitätspolitik verfolgt, hat dieses Phänomen zu einem blutigen Kulturkampf geführt. Französische Lehrer, das ergab eine vom Senat angeordnete Untersuchung, zensieren sich lieber selber, als sich mit Eltern und Schülern anzulegen. Sie tun es aus gutem Grund. Der Leiter des Pariser Gymnasiums Maurice Ravel ist kürzlich zurückgetreten, weil er Morddrohungen erhielt. Er hatte eine Schülerin aufgefordert, ihr Kopftuch abzulegen, worauf er in sozialen Netzwerken beschuldigt wurde, sie geohrfeigt zu haben. Beweise dafür gibt es bis heute keine.
Drohungen erhielt auch eine Gymnasiallehrerin in Issou, die ihren Schülern ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert gezeigt hatte. Weil auf dem Bild nackte Frauen zu sehen sind, schlugen muslimische Schüler theatralisch die Hände vors Gesicht. Eltern warfen der Lehrerin vor, sie habe das Bild extra gezeigt, um Muslime zu verletzen. Ein Lehrer ist im vergangenen Oktober von einem Islamisten in Arras unter „Allahu akbar“-Rufen erstochen worden.
Gemäss einer kürzlich publizierten Umfrage des Instituts Ifop waren 50 Prozent der befragten muslimischen Schüler der Meinung, es sei ihr Recht, Schulstoff zu boykottieren, wenn dieser religiöse Gefühle verletze. Rund ein Viertel der Teilnehmer fand, es sei in Ordnung, im Namen der Religion homophob oder sexistisch zu sein. Und 16 Prozent mochten den Mord an Dominique Bernard nicht klar verurteilen.
Frankreich ist mit anderen europäischen Ländern nur bedingt vergleichbar. Es gibt dort weniger Arbeitslosigkeit, bessere Perspektiven und eine stärkere soziale Durchmischung, auch in grösseren Städten. Die muslimische Bevölkerung ist beispielsweise von Einwanderern aus dem Balkan geprägt, sie lebt weniger segregiert und ist mehrheitlich säkular eingestellt. Der Staat geht zudem nicht offensiv gegen religiöse Glaubensbekundungen in der Schule vor. Symptome für die zunehmende Verbreitung eines Halal-haram-Denkens gibt es aber überall. Offensichtlich wurde das nach dem Hamas-Terror am 7. Oktober. Viele jüdische Kinder berichteten, sie würden von muslimischen Mitschülern gemobbt. Lehrerinnen und Lehrer, die in stark multikulturell geprägten Quartieren unterrichten, sind seit einigen Jahren mit Schülern konfrontiert, die durch religiös verbrämtes Machtgebaren auffallen. Dies etwa, indem sie gemeinsamen Unterricht mit Mädchen ablehnen und Lehrerinnen respektlos behandeln.
So hat es auch in Frankreich angefangen, vor über zwanzig Jahren. Die Ersten, die darunter zu leiden hatten, waren jüdische Kinder, die sich zum Teil in private Schulen zurückzogen. Das Problem wurde vom französischen Establishment jedoch lange verschwiegen und verdrängt – aus Angst vor Rassismusvorwürfen und mit dem Argument, dass man wegen „Einzelfällen keine Wellen produzieren darf“. Eine Mehrheit der Linken und viele Bürgerliche tabuisierten das Problem, indem sie Warnern vorwarfen, „Wasser auf die Mühlen der Rechten“ zu leiten.
Mit dieser Mischung aus Angst, Überforderung und Verblendung reagieren Politiker und Pädagogen auch in Ländern wie Deutschland auf „konfrontative Religionsbekundung“, wie das Phänomen im Soziologenjargon heisst. Pädagogen sprachen lange Zeit von „individuellen Einzelfällen“, als ob es keine gemeinsamen ideologischen Ursachen gäbe, das Problem des islamischen und arabischen Judenhasses wird verwischt.
Hochschulen bereiten angehende Lehrkräfte kaum auf die Herausforderung durch „konfrontative Religionsbekundungen“ vor. Vielmehr scheinen die Bildungstheoretiker von postkolonialen und intersektionalen Theorien beeinflusst zu sein: Muslime gelten als homogene Gruppe, die wie andere Minderheiten von der Mehrheitsgesellschaft unterdrückt wird. Islamismus ist in dieser Weltsicht keine gefährliche Ideologie, sondern eine Einbildung von Rechten oder allenfalls eine Reaktion auf Ausgrenzung und Diskriminierung.
In Hochschulmagazinen werden den Schülern Unterrichtsmaterialien empfohlen, in denen sie sich „mit Anti-Islamismus, Mobbing, strukturellem Rassismus und Stigmatisierung“ auseinandersetzen können. Anti-Islamist zu sein – also politische Strömungen abzulehnen, die religiöse Gesetze über jene der demokratischen Verfassung stellen –, ist demnach schlecht und rassistisch, wie es überhaupt schlecht ist, über Islamismus zu reden.
Wer Islamismus im Namen von Vielfalt und Geschlecht tabuisiert, ist entweder naiv oder zynisch. Denn Islamisten sind nur dann für Vielfalt, wenn es der Durchsetzung ihrer religiösen Ziele dient. Bei Protesten gegen Schullektionen über Sexualität und LGBTQ+-Rechte verbünden sich islamische Fundamentalisten nicht zufällig mit reaktionären Christen. So geschehen in England oder in Belgien, wo im letzten Herbst fünf Schulen in Brand gesetzt wurden.
Eine weitsichtige Integrations- und Bildungspolitik würde nicht das Opfernarrativ der Islamisten stärken, sondern jene Muslime, die ihre Religion als Privatsache betrachten. Schulen, in denen Jugendgruppen für Unruhe sorgen, müssten durch Umteilungen von Schülern entlastet werden. Es kann nicht sein, dass in manchen Quartieren eine Minderheit eine Mehrheit integrieren soll, während andere kaum betroffen sind. Lehrer sollten sich in der Ausbildung mit islamistischem Gedankengut befassen. Sie könnten den Kindern zeigen, was totalitäre Ideologien verbindet und welche Unterschiede es zwischen christlichem und islamischem Judenhass gibt, sie könnten vom osmanischen Völkermord an den Armeniern erzählen. Und sie könnten ein Bewusstsein schaffen für die gemeinsame Verantwortung der arabischen und der europäischen Imperialisten für den Sklavenhandel, statt woke Glaubenssätze von der Alleinschuld des weissen Mannes nachzuerzählen.
Wer glaubt, Fundamentalisten mit Dialog und Entgegenkommen beruhigen zu können, irrt. „Wir müssen feststellen, dass sich einige schlicht weigern, mit uns eine Gesellschaft zu bilden“, sagte Michaëlle Paty kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift „Le Point“. Paty ist die jüngere Schwester des französischen Lehrers Samuel Paty, der 2020 von einem Islamisten auf offener Strasse enthauptet wurde, weil er seinen Schülern das Prinzip der Meinungsfreiheit erklären wollte und ihnen Karikaturen des Propheten Mohammed gezeigt hatte. Selbst in Frankreich gibt es laut Michaëlle Paty immer noch Leute, die nicht sehen wollen, wie sehr die islamistische Ideologie die Schule bedroht. Es sei aber lebenswichtig, das Übel zu benennen. „Ich befürchte, dass es ohne eine entschlossene Reaktion sehr schlecht ausgehen wird.“
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