Seit über drei Jahre ist das Leben einer jungen Französin nicht mehr das gleiche: Auf ihrem Instagram-Account postete sie folgenden Satz: „Ich hasse Religion, der Koran ist voller Hass… Eure Religion ist Scheiße“. Grund für ihre Äusserung war damals ein Treffen in der Öffentlichkeit, bei dem sie sich mit einer lesbischen Bekannten über die Schönheit arabischer Frauen austauschte. Ein muslimischer Mann soll sich eingemischt haben und sie als „dreckige Lesben“ beschimpft haben. Deshalb habe sie ihr Video aufgenommen, mit dem sie ihre Meinung über die Religionen allgemein und insbesondere den Islam äußerte. „Ich sage, was ich denke. Ich bin keine Rassistin. Ich habe das Recht zu sagen, was ich denke, ich bereue das nicht“, sagte sie. Nachdem das Posting viral ging, erhielt sie Morddrohungen und musste auf Anraten der Polizei bei Verwandten „untertauchen“. Sie konnte nicht zur Schule gehen, weil anonyme Hetzer die Anschrift ihres Gymnasiums im Internet enthüllten und dazu aufriefen, die „gottlose Schlampe“ abzustrafen.
„Man kann einer Religion gegenüber nicht rassistisch sein. Ich habe gesagt, was ich denke, ich habe das volle Recht dazu. Ich bereue es überhaupt nicht“, erläuterte sie ihre Islam-Kritik. Nach der Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty durch einen Islamisten wiederholte sie im November 2020 in einem TikTok-Video ihre Verurteilung des Islams. Inzwischen hat sie ein Buch über ihre Erfahrungen unter dem vielsagenden Titel „Ich bin der Preis eurer Freiheit“ (Je suis le prix de votre liberté, Verlag Grasset Paris) veröffentlicht. Sie habe ihren jugendlichen Übermut eingebüßt, schreibt sie darin. Gleichzeitig aber unterstrich sie, dass ihre damaligen Äusserungen vulgär gewesen seien, dafür entschuldige sie sich auch.
Gegen die Morddrohungen entschied sich die junge Frau vor Gericht zu gehen. Die Attacken gegen sie wurden von Personen mit ihrem realen Namen unterzeichnet, so hatte sie die Möglichkeit, auch juristisch vorzugehen. Vor Gericht in Paris hatten die Angeklagten gestanden, Urheber der Nachrichten gewesen zu sein, sie stritten aber ab, als Teil einer Einschüchterungskampagne agiert zu haben. „Soziale Netzwerke sind wie die offene Straße“, mahnte der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung. „Wenn Sie jemanden auf der Straße treffen, würden Sie ihn auch nicht beleidigen, bedrohen oder sich über ihn lustig machen.“ Das Gericht verurteilte die Angeklagten jeweils 1500 Euro Entschädigung zu zahlen sowie Gerichtskosten von je tausend Euro zu übernehmen. Vor dem Richter verteidigte die Klägerin wieder ihr Recht, weiterhin die sozialen Netzwerke zu nutzen. „Mir die sozialen Netzwerke zu verbieten ist wie einer vergewaltigten Frau zu sagen, sie solle nie wieder auf die Straße gehen, um nicht noch einmal vergewaltigt zu werden“, sagte sie. „Ich will einfach nur existieren und die Zeit genießen, die mir noch bleibt“.
Nach dem Urteil war aber keine Normalität für die Französin eingetreten. Bei ihrer Familie in der Nähe von Grenoble konnte die junge Frau schon seit langem aus Sicherheitsgründen nicht mehr leben. Sie wurde unter strikter Geheimhaltung in einem Internat der französischen Armee eingeschult. Doch durch unvorsichtige Nachrichten in den sozialen Netzwerken gab sie Hinweise auf ihre Unterkunft. Der Leiter des Militärinternats verwies sie der Schule, da sie die anderen 750 Schüler gefährde. Seither musste sie ständig den Wohnort wechseln. Während die Täter mit Bewährungsstrafen davonkamen, braucht die Frau wohl noch lange Polizeischutz brauchen. Erst kürzlich gab sie im Radioein Interview: „Wir haben gewonnen, und wir werden weiter gewinnen.“ Aber ihre Zukunft ist alles andere als abgesichert, wie ihr Anwalt Richard Malka eingestand. „Ich weiß nicht, wie ihre Zukunft aussehen wird. Alles ist kompliziert. Wenn selbst die Armee meint, sie im Militärinternat nicht schützen zu können, wer kann sie dann schützen?“
Frankreich ist es bislang nicht gelungen, ein Gesetz gegen Hassrede im Netz zu verabschieden. Ein entsprechender Versuch scheiterte an den Einwänden des Verfassungsrates. Das Gericht erklärte weite Teile des Gesetzes zur Bekämpfung von Hassinhalten im Internet für verfassungswidrig. Es ging dabei um den ersten Artikel, mit dem Plattformen vorgeschrieben wurde, innerhalb von einer Stunde „offensichtlich rechtswidrige“ Inhalte zu entfernen. Die Verfassungshüter bemängelten, dass die Deutungshoheit über die „offensichtliche Rechtswidrigkeit“ den Plattformen überlasse würde. Dies sei eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, die „unangemessen, nicht erforderlich und unverhältnismäßig“ gewesen sei.
Der Fall hat zu einer heftigen Debatte in Frankreich geführt, nachdem der Generaldelegierte des französischen Islamrates CFCM, Abdallah Zekri, die Drohungen gegen die junge Frau mehrmals rechtfertigte. Zekri sagte, sie habe die Reaktionen provoziert und müsse jetzt selbst damit klarkommen. „Wer Wind sät, muss mit dem Sturm rechnen“, sagte er in den Medien. „Das Mädchen weiß, was sie sagt. Sie hat die Religion beleidigt, jetzt muss sie die Folgen ihrer Worte tragen“. Zekri leitet auch die französische Beobachtungsstelle für Islamophobie.
Auch Präsident Emmanuel Macron konnte nicht schweigen. Er sagte, in Frankreich gebe es ein „Recht auf Gotteslästerung“. Es umfasse auch die Freiheit, „Religionen zu kritisieren und zu karikieren“. „Mila ist eine Jugendliche und wir schulden ihr Schutz an der Schule, in ihrem Alltag und bei Reisen.“ Er betonte, Minderjährige müssten besser gegen „neue Formen des Hasses und des Mobbings im Internet geschützt werden“.
Von islamischer Seite kam es zu keinem Dialog. Auch schwiegen die Verantwortlichen der muslimischen Verbände über die Mord- und Vergewaltigungsdrohungen ihrer Mitgläubigen. Dabei hätten sie die Chance bei diesem in der Öffentlichkeit stark diskutierten Skandal gehabt, auch aus theologischer Sicht etwas zur Frage der „Blasphemie“ zu sagen, denn die Charlie Hebdo Morde waren noch nicht lange her, auch die Ermordung des Lehrers Paty wurde mit „der Beleidigung des Propheten“ verknüpft.
Extremisten rechtfertigen ihre Todesdrohungen immer wieder damit, die Ehre des Islams wiederherstellen zu wollen. Dabei verhöhnt keine Beleidigung den Islam so sehr wie das Verhalten religiöser Fanatiker, die ihr heiliges Buch nicht zu kennen scheinen. An fünf Stellen thematisiert der Koran Blasphemie. Kein einziges Mal wird eine weltliche Bestrafung gefordert, vielmehr werden die Muslime aufgefordert, gelassen zu bleiben und sich lediglich abzuwenden, wenn ihre Religion beleidigt wird. An keiner dieser Stellen wird zur Gewalt oder gar zur Selbstjustiz aufgerufen, im Gegenteil, es heißt in aller Deutlichkeit: „Und ertrage in Geduld alles, was sie reden; und scheide dich von ihnen in geziemender Art.“
Trotz dieser Eindeutigkeit werden die Aussagen des Koran zur Gotteslästerung von Hardlinern auch anders interpretiert: ein Grund, warum Blasphemie in etwa der Hälfte der sogenannten islamischen Ländern bestraft wird, teilweise sogar mit dem Tod. An theologischen Argumenten für einen toleranteren Umgang mit Kritik mangelt es jedenfalls nicht, wie auch Überlieferungen aus dem Leben des Propheten zeigen. In einer berühmten Tradierung wird ein Gefährte des Propheten, Abu Bakr, der später der erste Kalif des Islams werden sollte, von einem Islamkritiker grob beschimpft. Abu Bakr hört diesem zunächst gelassen zu. Doch als er dem Spötter antwortet, verlässt der Prophet die Zusammenkunft. Abu Bakr ist irritiert, der Prophet erklärt: „Als du schwiegst, antwortete ein Engel für dich. Doch als du dich wehrtest, nahm Satan seinen Platz ein, also ging ich fort.“
Selbst ernannte „Kämpfer gegen Islamophobie“, aber auch Rechtsradikale müssen eins verstehen: Mit ihren vulgären Ausbrüchen und Drohungen machen sie sich in höchstem Maße unglaubwürdig. Wer an einer inhaltlichen Auseinandersetzung interessiert ist, kommt ohne Beleidigungen und Drohgebärden aus. Alle anderen machen sich verdächtig, nicht über stichhaltige Argumente zu verfügen. Hass ist immer auch ein Ausdruck von Ignoranz. Wollen wir ihm sinnvoll begegnen, ist Aufklärung ein erstes Mittel.
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