Frankreich versucht seit 2015, illegale Einwanderung durch Grenzkontrollen und sofortige Zurückweisungen einzudämmen. In vielerlei Hinsicht erinnert das französische Vorgehen an den letzte Woche vorgestellten Fünf-Punkte-Plan des deutschen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, dessen Kernpunkt „die Zurückweisung ausnahmslos aller Versuche illegaler Einreise“ bildet. Unter dem Eindruck der islamistischen Terroranschläge in Paris vom 13. November 2015 hatte die sozialistische Regierung regelmäßige Grenzkontrollen wieder eingeführt.
Polizeiliche Ermittlungsergebnisse bestätigten später den Verdacht, dass ein Großteil der Täter als Flüchtlinge getarnt in die EU kam, nachdem sie zuvor im syrisch-irakischen Gebiet der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) auf ihre Mission vorbereitet worden waren. Sie machten sich die mangelhaften beziehungsweise fehlenden Kontrollen an den Außen- und Binnengrenzen für die Organisation ihres mörderischen Unterfangens zu nutze.
Seit 2015 hat Frankreich die Ausnahmeregelung alle sechs Monate verlängert. Laut dem Schengener Grenzkodex ist es erlaubt, bei Gefahrenlagen vorübergehend Grenzkontrollen einzuführen. Diese müssen in regelmäßigen Abständen bewertet und es muss belegt werden, warum Kontrollen weiterhin notwendig sind. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied in einem Urteil gegen Österreich vom 26. April 2022, dass die kontinuierliche Verlängerung der Grenzkontrollen rechtswidrig sei. Frankreich hielt dennoch an Grenzkontrollen fest und ist bestrebt, dass es zu einer entsprechenden Anpassung des Grenzkodex kommt.
Auch bei der Zurückweisung illegaler Migranten nehmen wechselnde französische Regierungen einen Interpretationsspielraum des europäischen Rechts in Anspruch. An der Grenze zu Italien und zu Spanien werden auf der Grundlage von bilateralen Rücknahmevereinbarungen Personen zurückgewiesen, die keine gültigen Einreisepapiere bei sich führen. Im vergangenen Jahrzehnt wurden nach der Zählung eines Asylhilfevereins insgesamt mehr als 500.000 Personen zurückgewiesen. Wiederholungsversuche sind in dieser Zahl inbegriffen. Die französische Regierung sieht die Einreiseverweigerungen durch Artikel 14 des Schengener Grenzkodex gedeckt. Das gilt nach vorherrschender Rechtsauffassung in Paris auch für Personen, die einen Asylantrag gestellt haben. Da es sich bei Italien und Spanien um sichere Drittstaaten handele, greife das Refoulement-Verbot in diesem Fall nicht, so die Bewertung im französischen Innenministerium.
Die staatliche Ombudsfrau für Grundrechte bewertet das Vorgehen an der französisch-italienischen Grenze hingegen als rechtswidrig. In einem „Entscheid“ genannten, 184 Seiten langen Bericht vom letzten Jahr beklagt die Grundrechtebeauftragte „systematische Verletzungen“ der Rechte von Asylsuchenden. So seien die Einreiseverweigerungen keiner gerichtlichen Kontrolle unterworfen. Sie bezifferte die Zahl der Zurückweisungen im Jahr 2023 auf mehr als 33.000, wovon 80 Prozent die französisch-italienische Grenze betrafen.
Der EuGH hat in einem Urteil vom 21. September 2023 daran erinnert, dass ein Staat zwar wieder Kontrollen an seinen Binnengrenzen einführen und Einreiseverweigerungen aussprechen kann, dies aber im Rahmen der Schutzgarantien des EU-Rechts und insbesondere der Rückführungsrichtlinie aus dem Jahr 2008 geschehen müsse. Geklagt hatten französische Asylhilfevereine. Der Conseil d’Etat, das höchste französische Verwaltungsgericht, interpretierte das EuGH-Urteil im Februar 2024 dahin gehend, dass ein kontrollierter Drittstaatenausländer für die Prüfung seines Aufenthaltsrechts „bis zu 24 Stunden lang“ an der Grenze festgehalten werden könne. Wenn eine Abschiebungsentscheidung wahrscheinlich sei, könne er in Verwaltungsgewahrsam genommen werden, um diese Entscheidung zu vollstrecken. Sofortige Zurückweisungen sind damit im Fall von Asylsuchenden nicht mehr möglich, aber der Staatsrat lässt der Regierung den nötigen Handlungsspielraum, um Migranten nach Prüfung zurückzuweisen, die keinen Anspruch auf Asyl oder Schutz haben. Der Staatsrat erinnerte daran, dass die Betroffenen in Abschiebegewahrsam Anrecht auf einen Rechtsbeistand, einen Dolmetscher und ärztliche Versorgung haben.
Der Staatsrat vertrat dabei die Ansicht, dass Einreiseverweigerungen von Asylsuchenden auf der Grundlage von bilateralen Abkommen ausgesprochen werden können, die vor der Rückführungsrichtlinie aus dem Jahr 2008 abgeschlossen wurden. Frankreich hat bereits 1997 das sogenannte Chambéry-Abkommen mit Italien vereinbart. Innenminister Bruno Retailleau von den konservativen Les Républicains (LR) sieht in der Rückführungsrichtlinie das größte Hindernis einer effizienten Asylpolitik in der EU. Das sogenannte Dublin-System wird schon seit Langem als dysfunktional bewertet. Innenminister Retailleau hat mit Blick auf die Immigrationspolitik bekundet, der rechtsstaatliche Rahmen sei „weder unantastbar noch heilig“. Das Souveränitätsrecht Frankreichs werde ausgehöhlt, wenn die EU Frankreich verpflichte, jeden einreisen zu lassen, der einen Asylantrag geltend macht. Retailleau monierte, die EU-Richtlinie sei in ihrer derzeitigen Fassung eine „Nicht-Rückführungsanweisung“. Obwohl Frankreichs Vorgehen von Asylhilfegruppen weiterhin als rechtswidrig beklagt wird, hat die EU-Kommission auf ein Vertragsverletzungsverfahren verzichtet. Innenminister Retailleau hat wiederholt versprochen, die Zahl der direkten Zurückweisungen und der Abschiebungen zu erhöhen.