Was hat die Terrororganisation Hamas mit der Enthauptung des französischen Geschichtslehrers Samuel Paty vor vier Jahren zu tun? Überraschend viel, wie der nun in Paris eröffnete Strafprozess gegen sieben Männer und eine Frau zeigen könnte. Einer der Angeklagten, der 65 Jahre alte Abdelhakim S., befeuerte jahrelang den Hass auf Israel und beförderte antisemitische Thesen.
2004 begründete er ein nach dem Hamas-Gründer Scheich Ahmad Jassin benanntes Kollektiv in Frankreich. Er verbreitete im Internet und auf der Straße seine islamistische Propaganda. S. muss sich jetzt vor Gericht verantworten, weil er im Herbst 2020 die Hetzkampagne gegen Paty in den sozialen Netzwerken anzettelte. Ihm droht eine Haftstrafe bis zu 30 Jahren. Erst nach der Enthauptung Patys Ende Oktober 2020 wurde das Kollektiv Scheich Jassin vom Innenminister verboten und aufgelöst.
In den nächsten Wochen soll in Paris vor dem Schwurgericht die schier unaufhaltsame Gewaltspirale analysiert werden, die von der Unterrichtsstunde über Meinungsfreiheit in die Ermordung des Geschichtslehrers in der Nähe des Schulgebäudes bei Paris gipfelte. Eine wichtige Nebenklägerin ist die Schwester des Lehrers, Mickaëlle Paty. Sie hat in einem Buch beschrieben, wie die Institutionen und Personen, die Paty eigentlich hätten schützen müssen, sich aus Furcht vor einem Skandal nicht rührten. Das Rektorat in Versailles wie auch der für Laizität zuständige Obmann wollten aus ihrer Sicht die Ankläger nicht brüskieren. „Wir wetten, dass sich die Dinge irgendwann beruhigen werden, wenn niemand mehr darüber spricht“, fasste die Schwester zusammen. Sie beschreibt ergreifend, wie ihr Bruder sich immer bedrohter und isolierter fühlte.
Er war von einer während der Unterrichtsstunde abwesenden Schülerin bezichtigt worden, Muslime diskriminiert und provoziert zu haben, als er als Anschauungsmaterial die von der Wochenzeitung „Charlie Hebdo“ publizierten Mohammed-Karikaturen zeigte. Der Vater der Schülerin, der ebenfalls zu den Angeklagten zählt, erhob daraufhin schwere Vorwürfe gegen den vorgeblich islamfeindlichen Lehrer in den sozialen Netzwerken. Damit setzte er die Hetzkampagne in Gang, die von S. aufgegriffen und befeuert wurde.
Es ist die Geschichte einer tödlichen Spirale, sie dauerte zwei Wochen. Am 6. Oktober 2020 nimmt Samuel Paty in einer 4. Klasse des Collège du Bois d’Aulne ein Thema durch, das zum Lehrplan gehört und das er schon oft behandelt hat: „Être ou ne pas être Charlie? – Charlie sein oder nicht?“ Die Formulierung fußt auf der solidarischen Losung mit dem Hashtag „#JeSuisCharlie“ (Ich bin Charlie), die nach dem islamistischen Attentat auf die Redaktion im Januar 2015 über Frankreichs Grenzen hinaus die Runde machte. Aber kann man auch nicht Charlie sein? Patys Schülerinnen und Schüler sollen ein Dilemma diskutieren: Gehen Karikaturen wie die des Propheten Mohammed in der Satirezeitung Charlie Hebdo zu weit, weil sie die Gefühle der Muslime verletzen – oder gilt dafür die Meinungsfreiheit?
Bevor Paty eine der Karikaturen zeigt, bietet er jenen muslimischen Schülern, die das wünschen, die Möglichkeit an, den Blick ein paar Sekunden abzuwenden oder den Klassenraum kurz zu verlassen, was einige auch tun. Doch schon bald bekommt der Vorgang eine neue Dynamik. Eine Schülerin, 13 Jahre alt, erzählt zu Hause, Paty habe sie und alle muslimischen Mitschüler aus dem Klassenzimmer ausgeschlossen. Das ist, wie sich später erweisen soll, eine doppelte Lüge: Das Mädchen war in der Unterrichtsstunde gar nicht anwesend.
Der Vater des Mädchens, Brahim Chnina, ist empört. Auf Facebook postet er die Version seiner Tochter, bezeichnet den Lehrer als „voyou“ (Gauner) und nennt den Namen der Schule, die Adresse, den Namen des Lehrers. Die Angaben bleiben nur eineinhalb Stunden im Netz, dann löscht er sie. Doch da ist es schon zu spät. Samuel Paty ist jetzt eine Zielscheibe. Und die Schule erreichen Anrufe aus der ganzen Welt, darunter auch Drohungen.
Nach zwei Tagen kontaktiert der Islamist Abdelhakim Sefrioui den Vater des Mädchens und bestärkt ihn in seiner Empörung. Sefrioui dreht ein Video für Youtube, zehn Minuten, interviewt darin Vater und Tochter, die wiederholen ihre Vorwürfe. Der Film trägt den Titel: „In einem staatlichen Gymnasium werden der Islam und der Prophet beschimpft.“ Zehntausende schauen sich ihn an.
Die Kampagne gegen Samuel Paty wird immer heftiger, auch auf anderen sozialen Medien, die falsche Erzählung ist nicht mehr zu stoppen. Ein 18-jähriger Tschetschene aus Évreux, der sich erst im Sommer im Netz radikalisiert hat, wird auf die Geschichte aufmerksam. In den sozialen Medien schreibt er: „Ihr werdet sehen, bald kommt der Tag, dass man von mir redet.“ Er setzt sich mit Brahim Chnina in Kontakt, sie telefonieren mehrmals. Der junge Mann will Dinge über Paty erfahren, er kennt den Lehrer nicht.
Am 16. Oktober fährt er nach Conflans-Sainte-Honorine, mit einem Messer. Er bietet einer Gruppe von Schülern Geld an, wenn sie ihm sagen, wer Samuel Paty ist. 300 oder 350 Euro. Drei sind bereit. Dann folgt er Paty auf seinem Heimweg. Es ist kurz vor 17 Uhr, der letzte Tag vor den Herbstferien. Er tötet Samuel Paty auf offener Straße und postet ein vorbereitetes Bekennerschreiben: „Ich habe einen deiner Hunde aus der Hölle exekutiert, der Mohammed erniedrigt hat. Es ist Monsieur Paty“. Zehn Minuten später ist auch der Attentäter tot, erschossen von der Polizei.
Der Vorsitzende Richter stellte zu Beginn des Prozesses die historische Dimension heraus, der für die Nachwelt aufgezeichnet werde. „Es war nicht nur ein Mann, ein Lehrer, der ins Visier der Islamisten gerückt ist, sondern unser gesamtes Schulwesen“, sagte auch der Geschichtslehrer Iannis Roder im Radio. Er ist einer der Autoren des Buches „Die verlorenen Territorien der Republik“, in dem 2004 erstmals das Rückzugsgefecht der Institution Schule angesichts der schleichenden Islamisierung ganzer Schulbezirke beschrieben wurde.
Ende 2023 fand der Prozess gegen die Schüler Samuel Patys statt, die zu Bewährungsstrafen zwischen sechs und 14 Monaten verurteilt wurden, weil sie ihren Lehrer gegen Geld dem Täter ausgeliefert hatten. Die Schülerin, die mit ihrer Lüge die Menschenjagd in Gang setzte, stellte sich als eine der 98 Zeugen vor. Vier weitere Angeklagte stehen im Verdacht, über Snapchat-Gruppen den Täter zu der Rache an dem Mohammed-Beleidiger angestachelt zu haben. Die 36 Jahre alte Priscilla M. wie auch die 22 Jahre alten Yusuf C., Ismael G. und Louqmane I. waren nur virtuelle Kontakte des Täters.
Kann Hetze im Netz schon Beihilfe zum Terrorismus sein? Und lässt sich das in einem Gericht beweisen? Der Fall erschütterte das Land damals, er tut es noch immer. Der Name des Lehrers brannte sich in das kollektive Gedächtnis der Franzosen ein.