In Frankreich hat sich erneut eine Debatte um Islam, europäische Werte und Extremismus entwickelt. Auslöser war ein Gespräch im Magazin „Front Populaire“, welches der Herausgeber, der Philosoph Michel Onfray, mit dem international bekannten Schriftsteller Michel Houellebecq führte. Gegen die abgedruckten Äußerungen geht nun der Rektor der Großen Moschee in Paris, Chems-Edinne Hafiz, juristisch vor: Er reichte bei der Staatsanwaltschaft Klage gegen Houellebecq wegen „Aufstachelung zum Hass gegen Muslime“ ein.
Stein des Anstoßes ist ein 45-seitiger Dialog, den der Schriftsteller Michel Houellebecq und der Philosoph Michel Onfray Ende November in einer Sonderausgabe des „Front Populaire“ mit der Titelfrage „Fin de l’Occident?“ (Das Ende des Abendlandes?) veröffentlichten. Nachdem dieser im vergangenen Monat eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit und den Medien zur Folge hatte, griff Chems-Edinne Hafiz, der Rektor der Großen Moschee von Paris, zu härteren Mitteln. Er reichte bei der Staatsanwaltschaft Klage gegen Houellebecq wegen „Aufstachelung zum Hass gegen Muslime“ ein.
Im Gespräch der beiden französischen Intellektuellen geht es mit häufigem satirischen Unterton um viele Themen. Neben der unter rechten Denkern beliebten Verschwörungstheorie des „antiokzidentalen Großen Austauschs“ der Bevölkerung enthält es auch die These von einer nationalen Rebellion: „Wenn ganze Territorien unter islamistischer Kontrolle sein werden, denke ich, dass es Widerstandsakte geben wird. Es wird Attentate und Schießereien in Moscheen geben, in von Muslimen besuchten Cafés, kurz: umgekehrte Bataclans“, so Houellebecq. Der provokante Schriftsteller zieht eine Trennlinie zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft – und unterstellt den Migranten aus dem Süden pauschal, die französische Gesellschaft zu unterminieren. „Ich glaube, der Wunsch der französischen Stammbevölkerung ist nicht, dass die Muslime sich assimilieren, sondern dass sie aufhören, uns zu bestehlen und zu attackieren, kurz gesagt, dass ihre Gewalttätigkeit abnimmt, dass sie das Gesetz und die Menschen respektieren. Eine gute Lösung wäre es auch, wenn sie einfach abhauen.“
Die Provokationslust Houellebecqs ist legendär. Er äußerte sich bereits bewundernd über das illiberale System Putins in Russland und feierte Trump als einen der besten Präsidenten, die die USA je gehabt hätten. Auch der Islam spielte in seinen Romanen bereits eine Rolle. Am prominentesten in „Unterwerfung“ aus dem Jahr 2015. Darin imaginiert Houellebecq eine muslimische Machtübernahme in Frankreich – ob zum Wohl oder Wehe des Protagonisten bleibt dabei allerdings schillernd ambivalent. So viel Differenzierung erlaubt sich der Autor in seinen politischen Einlassungen offensichtlich nicht.
Dem Schriftsteller werden nach den Attentaten auf Bali und „Charlie Hebdo“ sowie den „Gelbwesten“-Protesten – Ereignisse, die jeweils in kurz zuvor veröffentlichten Romanen detailliert vorausgesagt werden – geradezu hellseherische Fähigkeiten zugeschrieben. Kurz nach der Veröffentlichung des Gesprächs mit Onfray wurden in Paris drei Kurden von einem bekennenden Rassisten ermordet.
Onfray war zunächst, wie einige europäische Intellektuellen der „Nouvelle Droit“, ein linkslibertärer Existentialist, der einst die staatsunabhängige „Université Populaire de Caen“ aufbaute, in den vergangenen Jahren mutierte er jedoch zum rechtsnationalen Unterstützer eines souveränen Frankreich.
Hafiz, ein angesehener Anwalt mit algerischem Familienhintergrund und zahlreichen Ämtern im Dienst eines liberalen Islam, sieht seine nun bei der Staatsanwaltschaft eingebrachten Strafanzeige durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 20. Dezember beflügelt. Hafiz hält Houellebecqs Äußerungen für „inakzeptabel“ und von „erstaunlicher Brutalität“. Er mache einen fundamentalen Unterschied zwischen Französischstämmigen und Muslimen auf, „um zu behaupten, dass Letztere niemals echte Franzosen sein könnten“. Dieser generelle Ausschluss einer Bevölkerungsgruppe münde in einen Aufruf zum Hass gegen Muslime und mache jede Diskussion unmöglich.
Der Rektor der Großen Moschee in Paris ist ebenso nicht unumstritten: Zwar gilt er als moderater Vertreter des Islams, war aber in der Vergangenheit auch durch zweifelhafte Aussagen in die Nähe zum politischen Islam gerückt. Hafiz war von 2003 bis 2021 Mitglied des Exekutivbüros des „Conseil français du culte musulman“ und gehört zu den Unterzeichnern der „Prinzipien-Charta für einen Islam Frankreichs“ vom Januar 2021. Diese hält fest, dass die Regeln der Republik auch für den Islam gelten, ihre publikumswirksame Unterzeichnung war ein wichtiges Zeichen gegen den Islamismus. Die Republik dankte es Hafiz, der Offizier der Ehrenlegion und des Verdienstordens ist.
Dieses gute Einvernehmen wurde im vergangenen Sommer empfindlich gestört, als Hafiz folgenden Hadith zitierte: „Die Gläubigen werden sich niederknien, während die Ungläubigen es nicht tun können werden, ihr Rücken wird steif bleiben, und wenn einer von ihnen wünschen wird, sich niederzuknien, wird sein Nacken in die andere Richtung gehen, wie die Ungläubigen dieser Welt es taten, im Gegensatz zu den Gläubigen.“ Das hatte Hafiz am Tag nach dem Attentat auf Salman Rushdie getwittert. Der Tweet verschwand im Eiltempo, aber der Schaden war angerichtet; ein Unterstützungsbrief an Rushdie konnte ihn nur ansatzweise reparieren. Hafiz zählt auch zum engen Beraterkreis des französischen Innenministers Gérald Darmanin, der mit vielen Aussagen die französischen Muslime bereits verunsichert hat.
Als Anwalt von Beruf weiß Hafiz allerdings auch, dass ein Erfolg seiner Klage nicht garantiert ist. Bereits 2002 hatte er einen Prozess gegen Houellebecq angestrengt, als dieser im Rahmen der Veröffentlichung seines Romans „Plattform“ den Islam als die „dümmste aller Religionen“ bezeichnet hatte, Houellebecq hat damals gewonnen. Diesmal könnten Hafiz’ Chancen besser stehen: Houellebecq greift nicht mehr wie 2002 eine Religion als Doktrin an, was das französische Gesetz erlaubt, sondern attackiert eine Bevölkerungsgruppe, die er generell als problematisch darstellt – seine Verteidigung dürfte es deutlich schwerer haben.
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