Berlin im Frühling diesen Jahres, Feierlaune ist angesagt in vielen Veranstaltungssälen der deutschen Hauptstadt.
Es ist nur noch eine Woche bis zur Wahl in der Türkei, die über die Zukunft des Langzeitherrschers in Ankara entscheidet. Und dieses Wochenende war es die letzte Chance der Auslandstürken, für oder gegen Erdogan abzustimmen. Der Sultan vom Bosporus und seine AKP versuchen natürlich alles, jeden einzelnen Wähler noch für sich zu gewinnen. Dazu nutzen die Wahlkämpfer jedes Mittel, Auftritte mit Hilfe der in Europa ansässigen türkischen Moschee-Gemeinden, Kultureinrichtungen durchzuführen. Besonders in Deutschland, den Benelux-Staaten, Österreich, Frankreich und Skandinavien wurden in den vergangenen Wochen immer wieder große Events beobachtet, in denen die AKP für sich wirbt, sogar wurden, wie in der deutschen Stadt Nürnberg, Wahlplakate der Regierungspartei aufgehängt, mit Zustimmung der kommunalen Behörden.
„Die Frauenpolitik der AKP-Regierung im In- und Ausland“ lautet ein Folder, der im Festsaal eines Berliner Restaurants mit türkischer Küche in Neukölln ausliegt. Herausgegeben hat sie die Frauenorganisation der AKP, die Frauengruppe hat auch zu der Veranstaltung eingeladen.
Auch in den sozialen Medien lässt sich verfolgen, wie die AKP-Frauen für ihren ihren Anführer, trommeln: Hausbesuche, Straßenwahlkampf, Vorträge, in Düsseldorf, Berlin, Nürnberg, Köln. Auf Twitter jubelt man vergangene Woche sogar, man habe inzwischen mehr als 39.000 Menschen erreicht. Hashtags wie AKPFrauen, UnserSchwurdemAnführer oder WiederErdogan – damit machen sie Stimmung.
In einem Video wird eine Frau gefragt, wem sie ihre Stimme geben wird. Die Antwort: „Natürlich Papa Erdogan“. Türkinnen wie sie verehren ihn wie einen Übervater. In einem anderen Beitrag der AKP-Frauen heißt es: „Unser Leben würden wir hergeben – Erdogan niemals!“.
Allein in Deutschland sind 1,5 Millionen Türkinnen und Türken wahlberechtigt, seit dem 27. April bis zum 9. Mai konnten sie hier in den Auslandsvertretungen über einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament mitbestimmen. Vielleicht werden ihre Stimmen die Wahl entscheiden. Denn Umfragen zufolge könnte es ein knappes Rennen werden. In Deutschland gewann Erdogan 2018 mit knapp 65 Prozent der Stimmen, in Österreich waren es sogar über 69 Prozent, aber die AKP weiß, dass auch in Köln, Berlin, Brüssel oder Wien noch nichts entschieden ist.
Im Vorfeld früherer Wahlen kam der türkische Präsident auch schon mal selbst hierher, um seinen Landsleuten zu zeigen: Ich bin euer Mann. Sein Außenminister nutzte einen Arbeitsbesuch in der österreichischen Hauptstadt, um bei einem Festbankett für seinen Chef Stimmung zu machen, er rief Erdogan während seiner Ansprache vor über 1.000 geladenen Gästen an und hielt sein Mobiltelefon an das Mikrofon.
Besonders die Frauen haben den Präsidenten und seine AKP bei den Wahlen nie alleingelassen, betonte auch Erdogan in der Vergangenheit immer wieder. 2018 sagte er in einer Rede: „Unsere Frauen in der AK Partei sind Pionierheldinnen. Sie sind diejenigen, die in die Häuser gehen und sich mit unseren Bürgern, von den Jüngsten bis zu den Ältesten, treffen und sie davon überzeugen, für die AK Partei zu stimmen. Die Burg wird von innen erobert.“ Denn sobald seine Wahlhelferinnen die Ehefrauen überzeugt hätten, würden diese Wege finden, ihre Männer zu überzeugen.
Die AKP-Frauen, tragen „weibliche Weisheit, weiblichen Scharfsinn und Erlesenheit in die Politik. Manches Mal unter unmöglichen Bedingungen, manches Mal auf sich allein gestellt. Aber ohne zusammenzubrechen und ohne sich über die Bedingungen zu beklagen, schultern sie die Sache der AKP mit asketischer Ergebenheit“, so steht es in der Broschüre der Frauenorganisation.
Das Ende der Wahlkampfveranstaltung in Berlin ist für die Öffentlichkeit festgehalten worden, es gibt ein kleines Video auf Twitter: 30 Musliminnen, fast alle mit Kopftuch, rufen gemeinsam auf Türkisch in die Kamera: „Wir machen dich wieder zum Präsidenten, das schwören wir dir, Anführer.“ Jede Einzelne zeigt das Rabia-Zeichen, vier Finger der Hand ausgestreckt, den Daumen nach innen geklappt. Das Symbol geht auf die islamistische Muslimbruderschaft in Ägypten zurück. In der Türkei ist es vor allem mit Erdogan und der AKP verbunden und dient als Bekenntnis zum politischen Islam und zur Mobilisierung gegen jede Art von Opposition. Es wird auch eine Hand zum Wolfsgruß geformt, das heißt den kleinen Finger und den Zeigefinger abgespreizt – damit bekunden sie zusätzlich ihre Sympathien für die rechte, ultranationalistische Partei MHP, mit der die AKP koaliert.
Für die meisten der AKP-Wahlkämpferinnen hat Religion eine enorme Bedeutung. Viele Türkinnen mit Kopftuch verehren Erdogan auch deshalb, weil er den Islam in der Mitte der Gesellschaft verankerte und ihre Rechte stärkte. Aber auch in anderer Hinsicht sammelte Erdogan – dessen Frau Emine Kopftuch trägt wie auch seine beiden Töchter – Punkte bei gläubigen Musliminnen: 2018 forderte der Präsident Frauen und Kinder auf, sie sollten häufiger in die Moscheen kommen.
Einer Umfrage in der Türkei nach der letzten Wahl zufolge gaben 60 Prozent der befragten Hausfrauen an, für Erdogan gestimmt zu haben. So hohe Werte hatte er in keiner anderen Gruppe. Studien aus der Türkei belegen, dass auch AKP-Anhängerinnen mit der wirtschaftlichen Lage unzufrieden seien, klagten über finanzielle Probleme oder darüber, dass ihre Kinder keine gute Ausbildung bekämen. Doch weil sie fürchteten, dass ihre Töchter nach einer Wahlniederlage wieder Nachteile durch ihr Kopftuch haben könnten, unterstützten sie die AKP weiter. Das Wahlverhalten werde also in erster Linie durch die Sorge um den eigenen Lebensstil bestimmt. Jene Musliminnen, die ihre Rolle vor allem im Hausfrauen- und Mutterdasein sehen, fühlen sich von Erdogan zudem in besonderer Weise geschätzt: „Unsere Religion hat den Frauen eine Autorität verliehen, nämlich die Autorität der Mutterschaft“, sagte er einmal. Feministinnen könne man das nicht erklären, „die akzeptieren die Mutterschaft nicht. Aber wir sagen, die, die das verstehen, die reichen uns, mit denen gehen wir unseren Weg weiter“.
Nicht nur die AKP macht Wahlkampf in Europa, sondern auch die Opposition. Die CHP in Berlin ist mit Teams auf der Straße unterwegs und auch viele alevitische Gemeinden positionieren sich öffentlich gegen Erdogan. Sein Herausforderer Kiliçdaroglu ist selbst Alevit. Sie sind eine bedeutende Minderheit in der Türkei. Ihr Glaube ist zwar beeinflusst durch den Islam, sie fasten jedoch nicht im Ramadan, pilgern nicht nach Mekka, und die Frauen tragen in der Regel kein Kopftuch. Seit Jahrzehnten kämpfen sie um gesellschaftliche und staatliche Anerkennung.
Die Türkei war 2021 unter großem Protest von Menschenrechtsorganisationen aus der vom Europarat ausgearbeiteten Istanbul-Konvention ausgestiegen. Diese verpflichtet die Unterzeichner, Gewalt gegen Frauen strafrechtlich zu verfolgen und die Gleichberechtigung zu fördern. Reaktionäre Kräfte sehen durch das Abkommen ihr traditionelles Familienbild in Gefahr. In dem völkerrechtlichen Vertrag ist nämlich auch festgehalten, dass niemand aufgrund der sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf.
NGOs berichten, dass in der Türkei jeden Tag eine Frau durch Gewalt ums Leben komme. „Viele hier in der Ferne kapieren gar nicht, wie schlimm es um die Frauenrechte in der Türkei steht“, sagt eine türkische Frauenrechtlerin. In einem Bericht vom vergangenen Jahr schildert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sechs Fälle, in denen Frauen von ihren Männern oder Ex-Partnern ermordet wurden, obwohl die Behörden gewusst hätten, dass sie einem erheblichen Risiko ausgesetzt gewesen seien. Nun hat sich Erdogan vor den Wahlen auch noch mit frauenfeindlichen und extremistischen Spitterparteien wie der Hüda Par zusammengetan, die als verlängerter Arm der Hisbollah in der Türkei gilt.
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