Sie ist eine der größten türkischen Religionsgemeinschaften in Europa und wird von ihrem Spiritus Mentor Erdogan immer wieder aufgewertet, verbal und finanziell: Milli Görüs. In Deutschland nennt sie sich „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG). Nun ist eine Studie der Wiener „Dokumentationsstelle Politischer Islam“ erschienen, die ein neues Licht auf diese Bewegung wirft.
Auch wenn einige Tendenzen innerhalb der Gemeinschaft kurzzeitig Hoffnung machten, dass Milli Görüs islamistische Tendenzen nicht mehr unterstützen würde, geht die Studie aus Wien nun davon aus, dass radikale Positionierungen nie aufgegeben oder auch nur kritisch reflektiert worden seien. Es gab zwar zeitweise Entwicklungen bei einigen Funktionären und Theologen, die sich von islamistischen Positionen wie der Notwendigkeit eines islamischen Staatswesens distanziert habe. Diese Neuorientierung sei allerdings vor allem innerhalb eines Zirkels von Führungskräften vollzogen worden, die aus einer jüngeren Generation stammten und intellektuell orientiert gewesen seien. Nach der Berufung von Kemal Ergün zum Präsidenten der IGMG im Jahr 2011 seien diese Zirkel jedoch marginalisiert worden und spielten „in der heutigen IGMG keine Rolle mehr“.
Spätestens, seitdem der Generalsekretär Bekir Altaş im letzten Jahr abgewählt wurde, zeigte sich, dass Milli Görüs an einer Reform ihrer islamistischen Theologie nicht interessiert war. Altaş hatte die palästinensische Hamas bei einer Veranstaltung in Wien als „Terrororganisation“ bezeichnet. Dies war wohl für die Kleriker eines radikalen Islam innerhalb der Gemeinde zu viel des Guten.
Besonders nach dem Blutbad der Hamas in Israel wurde der Druck seitens europäischer Politiker auf die Milli Görüs noch einmal erhöht: Der deutsche Bundesminister Cem Özdemir, selbst mit familiären Wurzeln in der Türkei, hatte der IGMG vorgeworfen, nach dem Hamas-Überfall auf Israel „relativierende Worte nach dem Motto ’selbst Schuld’“ gefunden zu haben. Der Chef der Organisation hatte nämlich nach dem Massenmord in Israel und der Entführung Hunderter israelischer Zivilisten durch die Hamas, darunter Babys und Alte, lediglich von einer „groß angelegten Aktion“ und einer „Gewaltspirale“ gesprochen.
Die Studie der „Dokumentationsstelle Politischer Islam“ legt ihren Fokus weiterhin auf die ideologischen Wurzeln von Milli Görüs, definiert durch den Begründer der Bewegung, den 2011 verstorbene türkischen Politiker und früheren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Seine Theorien eines politischen Islam sind noch immer die unangefochtenen politischen Leitideen der radikalen Gruppierung. Diese sind laut Studie „durchdrungen von antisemitischem Verschwörungsdenken“. Er wittere „geheimnisvolle Mächte, die die Welt durch ein ausbeuterisches Wirtschaftssystem und verschiedene internationale Institutionen beherrschen“. In Schriften Erbakans heißt es etwa, dass die EU „ein Konstrukt der Zionisten“ und „ein Mittel zur Sicherung der Weltherrschaft der Juden“ sei. Spätestens seit 2011 habe die Verehrung Erbakans wieder sichtbar zugenommen. So wurden in den vergangenen Jahren Gedenkfeiern zu Ehren Erbakans und anderer islamistischer Vordenker zentral von Köln aus geplant und weltweit beworben. Über den Buchhandel der IGMG können die unkommentierten Schriften Erbakans bezogen werden.
Die Organisation in Deutschland wird als wichtiger und auch mächtiger als ihre türkische Mutter analysiert. Von der Zentrale in Köln aus wird ein weltweites Moscheen- und Vereinsnetzwerk beherrscht, das heute sogar über Ableger in der Türkei verfügt und nicht mehr Ableger einer türkischen Organisation ist. Zudem soll die IGMG außerdem eng mit der extremistischen Muslimbruderschaft zusammenarbeiten. Diese strebt einen islamischen Gottesstaat auf Grundlage der Scharia an. Der Muslimbruderschaft werden allein in Deutschland mehrere tausend Mitglieder zugerechnet. In Deutschland steht sie unter Beobachtung des Verfassungsschutzes. Daher nutzen die Muslimbrüder verschiedene andere „Islamische Zentren“ für ihre Aktivitäten. Bei öffentlichen Auftritten werden Bekenntnisse zur Muslimbruderschaft und verfassungsfeindliche Äußerungen grundsätzlich vermieden. Die IGMG ist im „European Council for Fatwa and Research“ (ECFR) vertreten, ihre Studentenorganisation gehört dem „Forum of European Muslim Youth and Student Organizations“ (FEMYSO) an. All diese Organisationen zeigen eine Affinität und strukturelle Nähe zur Muslimbruderschaft an, so die offizielle Sichtweise der deutschen Sicherheitsorgane. Ebenso bestehen Kontakte zur türkisch-rechtsextremistischen „Ülkücü-Bewegung“, eher bekannt als die Grauen Wölfe.
Einen wichtigen Stellenwert nehme innerhalb der IGMG die Kinder-, Jugend- und Bildungsarbeit ein – auch die nächste Generation solle im Sinne der eigenen Ideologie erzogen werden. Es gibt Wochenendseminare, Sommercamps, Koranunterricht, Clubs nach der Schule, Sport- und Kunstwettbewerbe und sogar einen speziellen Club für Kleinkinder. Ziel sei die Vermittlung einer „eigenständigen islamischen Identität“, so die Forscher aus Wien. Der Unterricht finde prinzipiell in nach Mädchen und Jungen getrennten Gruppen statt. Es zeigten sich Ambitionen, Jugendliche zu indoktrinieren und sie zum „Widerstand gegenüber dem Bildungsauftrag des Staates zu bewegen, wenn dieser mit islamischen Vorstellungen beziehungsweise der Auslegung durch die IGMG nicht vereinbar ist“.
Auch unabhängig des Jugendbereichs sei die Organisation bestrebt, in kleinen Schritten separate Sphären zu schaffen, die eine „rein islamische“ Lebensweise ermöglichen. Abschließend stellt die Studie fest: „Ihre Aktivitäten zielen daher auch darauf, die sie umgebende Gesellschaft langfristig zu transformieren. Die Gesellschaft soll langfristig für islamistische Normvorstellungen empfänglich gemacht werden und etwa Geschlechtertrennung, Alkoholverbot und Speisegebote (bislang vornehmlich in Schulen und Kantinen) nicht nur akzeptieren, sondern praktizieren.“
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research Center vorbehalten.