Elf Tage nach der verheerenden Naturkatastrophe wagte sich der syrische Diktator erstmals, vor die TV-Kameras zu treten. Nicht nur in seinem geschundenen Land wurden die Worte des Augenarztes und Staatsoberhaupts Syriens übertragen, alle führenden Fernsehsender der arabischen Welt haben die Rede live übertragen. Dies wäre noch vor Monaten nicht denkbar gewesen.
Das brutale Vorgehen des Assad-Regimes hat bislang rund 500.000 Syrern das Leben gekostet und 13 Millionen Menschen in die Flucht getrieben haben, sechs Millionen davon innerhalb des Landes. Assad werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet, darunter der Einsatz von Chemiewaffen. Und nun, nach dem verheerenden Erdbeben im Nordwesten Syriens, wird der rote Teppich für genau diesen Assad wieder ausgerollt – zumindest in Muskat im Sultanat Oman, das in der Region den Ruf des neutralen Vermittlers innehat. Weitere Länder könnten dem Beispiel folgen.
Assad wusste natürlich, dass die muslimische Welt ihm bei seiner Fernsehansprache zuhören würde. Er dankte den „arabischen Brüdern und Schwestern“ für ihre Unterstützung für die Erdbeben-Opfer, doch auf einmal klang die seit Jahrzehnten von der syrischen Baath-Partei propagierte Beschwörung der arabischen Nation nicht mehr hohl und verstaubt, sondern ziemlich real.
Nachdem er über ein Jahrzehnt der Paria unter den arabischen Staatschefs war, empfängt er seit dem Erdbeben fast täglich Delegationen und Außenminister aus der Region, fliegt selbst zum Staatsbesuch nach Oman. Gleichzeitig nutzen die Machthaber der Region das Erdbeben als Vorwand, um ihre Beziehungen mit dem Regime in Damaskus zu normalisieren. Das gilt nicht nur für Länder, die schon länger auf Versöhnungskurs sind, wie die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Irak, Libanon, Algerien und Oman, sondern auch für Staaten, die bislang zögerten und aufseiten der Assad-Gegner standen.
Noch verweigern EU und USA dem syrischen Regime Wiederaufbauhilfen. Sie schauen seit Jahren zu, wie Assad die von ihnen finanzierte humanitäre UN-Hilfe zum eigenen Machterhalt missbraucht. Lukrative Verträge gehen an regimenahe Firmen und Organisationen, den Menschen wird nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach Loyalität geholfen.
Trotzdem werden die Forderungen nach einem pragmatischeren Umgang mit Damaskus auch innerhalb Europas lauter. Nach dem Erdbeben schickten die EU und Italien einen Konvoi über den Libanon, Hilfsflüge aus Deutschland, Dänemark und Norwegen landeten direkt in Damaskus. Berichten zufolge fließt die aktuelle Nothilfe zu 90 Prozent an das Regime, obwohl 88 Prozent der syrischen Erdbebenopfer in Gebieten leben, die von oppositionellen Kräften kontrolliert werden.
Türkei und Russland
Wie sich Verbündete stets zum eigenen Vorteil gegeneinander ausspielen lassen, macht Erdogan seit Jahren vor. Als Nato-Mitglied und Vermittler im Ukrainekrieg ist er für den Westen unverzichtbar, gleichzeitig stimmt er sich eng mit Putin ab.
Die vor Monaten geäußerte Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, sich mit Assad aussöhnen zu wollen, hat dabei wie ein Weckruf gewirkt. Besonders Riad will verhindern, dass Syrien nicht nur in russische und iranische Abhängigkeit gerät, sondern auch noch in Erdogans Einfluss gerät. Ende letzten Jahres hatten sich die Verteidigungsminister der Türkei und Syriens in Moskau getroffen. Noch vor den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wollte Erdogan Assad die Hand reichen. Hinter der schrittweisen Annäherung steckt Russlands Präsident Wladimir Putin, seit 2018 arbeitet er an der internationalen Rehabilitierung seines Schützlings Assad.
Putin hat militärisch und politisch viel investiert, um Assads Macht und damit seine eigenen geostrategischen Interessen im östlichen Mittelmeer zu sichern. Doch um Syrien zu stabilisieren, fehlt ihm das Geld. Für den Wiederaufbau der von seiner Luftwaffe und Assads Fassbomben schwer zerstörten Gebiete braucht Russland die Golfstaaten und den Westen – sie sollen zahlen, damit Moskau einen zuverlässigen Stellvertreter in der Levante hat. In seinem Wunsch, die Wahlen zu gewinnen, hatte sich Erdogan auf den Vorschlag Moskaus zur Rehabilitierung Assads eingelassen. Das syrische Regime sollte ihm helfen, Geflüchtete aus der Türkei zurückzuführen und die als existenzielle Bedrohung hochstilisierte kurdisch geprägte Autonomieregion in Nordostsyrien zu zerschlagen.
Das Erdbeben als Wendepunkt
Die Normalisierung der türkisch-syrischen Beziehungen ist durch das Erdbeben jedoch ins Stocken geraten. Erdogan und Assad kämpfen beide um den Machterhalt. Doch während es für den syrischen Machthaber an der Außenfront gut läuft, steht der türkische Präsident im Inneren massiv unter Druck. Solidarität mit den Menschen in Syrien kann Erdogan sich nicht leisten, solange ihm nicht einmal die Versorgung der eigenen Bevölkerung gelingt. Umgekehrt ist Assad dank seiner Resozialisierung in die arabische Nachbarschaft nicht mehr auf den Handschlag mit Erdogan angewiesen, zumal er sich einer Einigung mit Ankara auch sicher sein kann, wenn die nationalistische Opposition die nächste Regierung stellt.
Das syrische Regime wird deshalb das Ergebnis der Wahlen abwarten und dann auf einen Abzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien bestehen. Ankara könnte dieser Forderung nachkommen, denn die türkisch besetzten Gebiete entlang der Grenze sind angesichts ihrer schweren Erdbebenschäden eine zusätzliche Belastung geworden. Das syrische Regime müsste umgekehrt zusagen, die kurdische Selbstverwaltung aufzulösen und im Nordosten wieder selbst zu herrschen.
Bleibt das Problem der Geflüchteten. Für die meisten Syrerinnen und Syrer in der Türkei ist eine Rückkehr in Gebiete unter Assads Kontrolle keine Option, da sie Verfolgung, Verhaftung und Zwangsrekrutierung fürchten.
Tausende machen sich auf den Weg ins oppositionell kontrollierte und schwer zerstörte Idlib. 1,7 Millionen syrische Menschen leben in den türkischen Erdbebengebieten, viele haben alles verloren und bekommen keine staatliche Unterstützung. In Nordsyrien können sie zwar nicht mit internationaler Hilfe rechnen, dafür aber mit der Solidarität ihrer Landsleute. Seit Jahren suchen die Vertriebenen des Assad-Regimes hier Schutz, den brauchen nun auch rückkehrende Erdbebenopfer aus der Türkei. Umso dringender ist die internationale humanitäre Hilfe, die noch immer viel zu zögerlich ankommt. Drei Grenzübergänge sind inzwischen geöffnet, laut Nichtregierungsorganisationen werden die Konvois jetzt von den bürokratischen Bestimmungen der Vereinten Nationen aufgehalten.
Die Golfstaaten ändern ihr Verhältnis zum syrischen Diktator
Ägypten, enger Verbündeter der USA, hatte jeden offiziellen Kontakt zu Assad vermieden, bis Präsident al-Sisi am Tag nach dem Beben erstmals mit Assad telefonierte. Auch Jordanien hatte seine Kontakte aus Rücksicht auf westliche Kritik an den Menschenrechtsverletzungen des syrischen Regimes auf eine notwendige Arbeitsebene beschränkt, bevor der jordanische Außenminister jetzt persönlich nach Damaskus fuhr. Moralische Bedenken gibt es dabei nicht. Für die Autokraten am Golf und die Militärdiktaturen in Ägypten und Algerien spielen Völkerrechtsverbrechen keine Rolle. Die 130.000 Menschen, die in Syrien bis heute verschwunden oder inhaftiert sind und in den Gefängnissen der Geheimdienste systematisch gefoltert werden, interessieren sie nicht.
Ihnen ging es in der Vergangenheit vielmehr darum, islamistische Kräfte innerhalb der Opposition zu stärken, um in Syrien einen politischen Islam zu etablieren. Darunter litten vor allem die liberalen Assad-Gegnerinnen und -Gegner, die sich für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit einsetzen und zwischen der Gewalt des Regimes und der Unterdrückung durch Extremisten aufgerieben wurden.
Für Assad besonders wichtig ist eine Annäherung an Saudi-Arabien und Qatar, da die beiden Golfstaaten viel Geld haben und neben der Türkei als wichtigste Unterstützer der syrischen Exil-Opposition gelten. Der geplante Besuch des saudischen Außenministers in Damaskus könnte deshalb die vollständige Rehabilitation Assads in der Region einleiten – einschließlich der Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga beim nächsten Gipfeltreffen in Riad Ende März.
„In der arabischen Welt herrscht Konsens darüber, dass der Status quo nicht funktioniert und wir einen anderen Ansatz finden müssen, der noch formuliert wird“, sagte der saudische Außenminister Prinz Faisal al-Saud bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz. Er erwähnte auch die wirtschaftliche Überlastung von Ländern wie Libanon oder Jordanien bezüglich der Versorgung syrischer Flüchtlinge. Man müsse mit Assad über Rückführungen sprechen, so der Minister.
Die saudische Position im Umgang mit Syrien gilt als entscheidend für die Wiederaufnahme in die arabische Staatengemeinschaft. Bislang waren es vor allem genau die Saudis und die Katarer, die eine Initiative blockiert haben, Syrien wieder in die Arabische Liga aufzunehmen. Aus Kairo hieß es bereits 2021, man wolle „Syrien wieder in den arabischen Schoß“ zurückholen.
Wenn Saudi-Arabien und Qatar nun auf den Kurs der Emirate einschwenken – diese hatten Assad bereits im März 2022 empfangen – dann sind sie getrieben von dem Wunsch, den mit russischer und iranischer Hilfe an der Macht gehaltenen syrischen Präsidenten in den arabischen Einflussbereich zurückzuholen. Denn so schwach und zerstört Syrien derzeit auch sein mag: Das Land bleibt aufgrund seiner geopolitischen Lage zwischen der Türkei, Israel, Iran, dem Mittelmeer und den arabischen Ländern eine wichtige Schnittstelle des Nahen Ostens. Der arabische Schulterschluss mit Assad zeigt vor allem, dass die Herrschenden in Nahost ihre Außenpolitik nicht mehr an Washington ausrichten, sondern längst diversifiziert haben. Russland und China gelten in der Region als wichtige Gegengewichte zum amerikanischen und europäischen Einfluss, die Golfstaaten agieren in einer multipolaren Weltordnung unabhängig und effektiv.
Das Erdbeben bietet Assad also die Gelegenheit, die internationale Gemeinschaft zu einer offiziellen Anerkennung zu nötigen. Überraschend kam diese Wendung auch nicht, das Erdbeben war nicht der Anlass für die Neuausrichtung der Syrienpolitik durch die Golfstaaten: Die Vereinigten Arabischen Emirate pochen seit Jahren auf eine Annäherung mit Damaskus und leiteten als Erste diplomatische Schritte ein. Im Dezember 2018 eröffneten die VAE ihre Botschaft in Damaskus wieder. 2022 reiste Assad erstmals seit Beginn des Krieges in die Emirate, wo er herzlich empfangen wurde, Mitte Januar lud Scheich Mohammed bin Zayed al-Nahyan, der einflussreiche Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate, die Staatenlenker aus Oman, Katar, Ägypten, Jordanien und Bahrain zum Thema „Wohlstand und Stabilität in der Region“ ein. Dabei soll es auch um den Umgang mit Syrien gegangen sein.
Für Baschar al-Assad könnte also der Wunsch aufgehen angesichts der dringend benötigten Hilfe seine internationale Isolation zu beenden und die Sanktionen aufzuheben. Die USA lockerten bereits die Sanktionen für 180 Tage, um die Erdbebenhilfe zu erleichtern. Und auch Ersteres scheint Assad, zumindest regional, zu gelingen: Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi telefonierte vergangene Woche erstmals mit dem syrischen Machthaber und sicherte Hilfe zu. Vor wenigen Tagen besuchte der jordanische Außenminister Ayman Safadi erstmals seit Ausbruch des Konflikts Damaskus. Der jordanische König Abdullah II. war 2011 immerhin der erste arabische Staatschef, der den Rücktritt von Assad forderte.
Der arabische Schulterschluss mit Assad zeigt vor allem, dass die Herrschenden in Nahost ihre Außenpolitik nicht mehr an Washington ausrichten, sondern längst diversifiziert haben. Russland und China gelten in der Region als wichtige Gegengewichte zum amerikanischen und europäischen Einfluss, die Golfstaaten agieren in einer multipolaren Weltordnung „unabhängig und effektiv“.
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